Die Fliege

[114] Daß alle Tiere denken können,

Dies scheint mir ausgemacht zu sein.

Ein Mann, den auch die Kinder witzig nennen,

Äsopus hat's gesagt, Fontaine stimmt mit ein.

Wer wird auch so mißgünstig sein

Und Tieren nicht dies kleine Glücke gönnen,

Aus dem die Welt so wenig macht?

Denk' oder denke nicht, darauf giebt niemand acht.


In einem Tempel voller Pracht,

Aus dem die Kunst mit ew'gem Stolze blickte,

Dich schnell zum Beifall zwang und gleich dafür entzückte,

Und wenn sie dich durch Schmuck bestürzt gemacht,

Mit edler Einfalt schon dich wieder zu dir brachte;

In diesem Bau voll Ordnung und voll Pracht

Saß eine finstre Flieg' auf einem Stein und dachte.

Denn daß die Fliegen stets aus finstern Augen sehn

Und oft den Kopf mit einem Beine halten

Und oft die flache Stirne falten,

Kömmt bloß daher, weil sie so viel verstehn

Und auf den Grund der Sachen gehn.

So saß auch hier die weise Fliege.

Ein halbes Dutzend ernste Züge

Verfinsterten ihr Angesicht.[114]

Sie denkt tiefsinnig nach und spricht:

Woher ist dies Gebäud' entstanden?

Ist außer ihm wohl jemand noch vorhanden,

Der es gemacht? Ich seh's nicht ein.

Wer sollte dieser Jemand sein?

»Die Kunst«, sprach die bejahrte Spinne,

»Hat diesen Tempel aufgebaut.

Wohin auch nur den blödes Auge schaut,

Wird es Gesetz und Ordnung inne:

Und dies beweist, daß ihn die Kunst gebaut.«

Hier lachte meine Fliege laut.

»Die Kunst?« sprach sie ganz höhnisch zu der Spinne

»Was ist die Kunst? Ich sinn' und sinne

Und sehe nichts als ein Gedicht.

Was ist sie denn? Durch wen ist sie vorhanden

Nein, dieses Märchen glaub' ich nicht.

Lern' es von mir, wie dieser Bau entstanden:

Es kamen einst von ungefähr

Viel Steinchen Einer Art hieher

Und fingen an, zusammen sich zu schicken.

Daraus entstand der große hohle Stein,

In welchem wir uns beid' erblicken.

Kann was begreiflicher als diese Meinung sein?«


Der Fliege können wir ein solch System vergeben;

Allein daß große Geister leben,

Die einer ordnungsvollen Welt

Ein Ungefähr zum Ursprung geben

Und lieber zufallsweise leben,

Als einen Gott zum Thron erheben:

Das kann man ihnen nicht vergeben,

Wenn man sie nicht für Narren hält.

Quelle:
Christian Fürchtegott Gellert: Werke, Band 1, Frankfurt a.M. 1979, S. 114-115.
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