O Welt, sieh hier dein Leben

[33] 1.

O Welt, sieh hier dein Leben

Am Stamm des Kreuzes schweben!

Dein Heil sinkt in den Tod!

Der große Fürst der Ehren

Läßt willig sich beschweren

Mit Schlägen, Hohn und großem Spott.


2.

Tritt her und schau mit Fleiße:

Sein Leib ist ganz mit Schweiße

Des Blutes überfüllt;

Aus seinem edlen Herzen

Vor unerschöpften Schmerzen

Ein Seufzer nach dem andern quillt.


3.

Wer hat dich so geschlagen,

Mein Heil, und dich mit Plagen

So übel zugericht't?[33]

Du bist ja nicht ein Sünder

Wie wir und unsre Kinder,

Von Übeltaten weißt du nicht.


4.

Ich, ich und meine Sünden,

Die sich wie Körnlein finden

Des Sandes an dem Meer,

Die haben dir erreget

Das Elend, das dich schläget,

Und das betrübte Marterheer.


5.

Ich bins, ich sollte büßen,

An Händen und an Füßen

Gebunden, in der Höll;

Die Geißeln und die Banden

Und was du ausgestanden,

Das hat verdienet meine Seel.


6.

Du nimmst auf deinen Rücken

Die Lasten, die mich drücken

Viel sehrer als ein Stein.

Du wirst ein Fluch, dagegen

Verehrst du mir den Segen;

Dein Schmerzen muß mein Labsal sein.


7.

Du setzest dich zum Bürgen,

Ja lässest dich gar würgen

Für mich und meine Schuld;

Mir lässest du dich krönen

Mit Dornen, die dich höhnen,

Und leidest alles mit Geduld.


8.

Du springst ins Todes Rachen,

Mich frei und los zu machen

Von solchem Ungeheur.[34]

Mein Sterben nimmst du abe,

Vergräbst es in dem Grabe,

O unerhörtes Liebesfeur!


9.

Ich bin, mein Heil, verbunden

All Augenblick und Stunden

Dir überhoch und sehr.

Was Leib und Seel vermögen,

Das soll ich billig legen

Allzeit an deinen Dienst und Ehr.


10.

Nun, ich kann nicht viel geben

In diesem armen Leben;

Eins aber will ich tun:

Es soll dein Tod und Leiden

Bis Leib und Seele scheiden,

Mir stets in meinem Herzen ruhn.


11.

Ich wills vor Augen setzen,

Mich stets daran ergötzen,

Ich sei auch, wo ich sei;

Es soll mir sein ein Spiegel

Der Unschuld und ein Siegel

Der Lieb und unverfälschten Treu.


12.

Wie heftig unsre Sünden

Den frommen Gott entzünden,

Wie Rach und Eifer gehn,

Wie grausam seine Ruten,

Wie zornig seine Fluten,

Will ich aus diesem Leiden sehn.


13.

Ich will daraus studieren,

Wie ich mein Herz soll zieren

Mit stillem, sanften Mut,[35]

Und wie ich die soll lieben,

Die mich doch sehr betrüben

Mit Werken, so die Bosheit tut.


14.

Wenn böse Zungen stechen,

Mir Glimpf und Namen brechen.

So will ich zähmen mich;

Das Unrecht will ich dulden,

Dem Nächsten seine Schulden

Verzeihen gern und williglich.


15.

Ich will mich mit dir schlagen

Ans Kreuz und dem absagen,

Was meinem Fleisch gelüst't.

Was deine Augen hassen,

Das will ich fliehn und lassen,

So viel mir immer möglich ist.


16.

Dein Seufzen und dein Stöhnen

Und die viel tausend Tränen,

Die dir geflossen zu,

Die sollen mich am Ende

In deinen Schoß und Hände

Begleiten zu der ewgen Ruh.

Quelle:
Paul Gerhardt: Dichtungen und Schriften, München 1957, S. 33-36.
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