[In eure Mitte tret ich tiefbeklommen]

[275] In eure Mitte tret ich tiefbeklommen,

Der Wehmut Wolk umdüstert meinen Geist,

Der Augenblick des Scheidens ist gekommen,

Zum zweitenmale fühl ich mich verwaist.


Verlassen soll ich diese trauten Wände,

Wo mich der Hauch der Kunst zuerst berührt,

Wo liebevoll so treubeflißne Hände

Ins Reich des Klangs zuerst mich eingeführt.
[275]

Wo mein Gemüt, erweckt zu schönerm Streben,

Den Keim empfangen, der, mit Gott, gepflegt,

Gedeihn und blühn und wachsen soll im Leben,

Bis er einst lohnend süße Frucht mir trägt.


Drum laßt mich danken, eh ich trauernd gehe;

Vor allen, Dank dir, gute Meisterin!

Was ich gewann, durch deine Lehr und Nähe,

Ach! unvergeßlich lebts in meinem Sinn.


Du gabst mir nicht bloß hohle Wort und Töne,

Vom Herzen sprachst du liebend an mein Herz;

Und zeigtest mir, wie nur das wahre Schöne,

Die reine Seele flügelt himmelwärts.


Drum habe Dank! Dank auch den Edlen allen,

Die dieser Anstalt ihre Sorge weihn,

Nie wird ihr Nam in meinem Ohr verhallen,

Ob fern auch, werden sie mir nahe sein.


Sie werden stets im Geiste mich begleiten,

Wohin auch wechselnd mir das Schicksal winkt,

Ihr Bild wird tröstend mir zur Seite schreiten,

Wenn mir der Mut bisweilen zagend sinkt.


Und so, gerüstet mit dem besten Willen,

Beseelt vom Danke, scheid ich nun von hier.

Gott möge meinen Wunsch für euch erfüllen,

Und euer bester Segen folge mir.


Und sollt ich einst die Heimat wiedersehen,

Vor euch erprobend, was ihr selbst mir gabt,

So mögt ihr freundlich lohnend mir gestehen,

Daß ihr euch meiner nicht zu schämen habt.

Quelle:
Franz Grillparzer: Sämtliche Werke. Band 1, München [1960–1965], S. 275-276.
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