Stabat mater

[281] Nun wohl, es ward euch dargebracht,

Ihr habt es nicht erkannt;

In all der Tonkunst Zaubermacht,

In des Gefühles Farbenpracht,

Ihr wiest es von der Hand.

Ihr jauchztet wenigstens nicht laut,

Daß in der Zeiten Sand,

Der dürre Kräuter spärlich trägt,

Von Zweifelsdornen eingehegt,

Die Rose euch entstand,

Die dasteht mit gesenktem Haupt,

Euch bittend: »Seht mich an und glaubt,

Vergeßt für einen Augenblick

Euch selbst in des Genusses Glück!«

Ihr aber wieset es zurück.


Was liegt daran! Das Werk besteht,

Und euer später Enkelsohn

Zahlt einst die Schuld des Vaters schon,

Wie ihr für eure Väter steht,

Die Mozarts »Don Juan« verschmäht.

Den Meister aber kümmerts nicht.

Er kennt die Welt. Mir däucht, er spricht:

»Wenn sie mit den Augen hört,

Mit den Ohren sieht,

Mit dem Kopfe fühlt,

Und dem Gefühle denkt,

Ist sie nicht wert, daß man sich kränkt.«


Eins aber ging verloren, eins!

Der Unschuld Glück, o Östreich, deins.

In Deutschlands kalter Nebelnacht,[281]

Wo kaum ein Sonnenstrahl mehr lacht,

Irrwische leuchten, fauler Dunst,

Mit der Natur einschlief die Kunst,

Lagst du oasenähnlich da,

Für den, der beßre Zeiten sah.

Ein lauer Hauch ging durch die Luft,

Durchwürzt von kleiner Veilchen Duft,

Die Bäume standen hoch und frisch,

Von Licht und Schatten ein Gemisch;

Und wenn dein Wissen minder reich,

Was wahr, teilt Gott an alle gleich;

Drum gabs in deinen Tälern Schall,

Es klang das Lied der Nachtigall,

Indes an deiner Grenze Saum

Der heisre Sperling zwitschert kaum,

Und Papageien sinnentfernt

Nachplappern, was sie eingelernt.

Allein die Gletscher schreiten fort,

Es wächst das Eis von Ort zu Ort,

Und der Pedant, ein rauher Nord,

Er bläst dich an mit seinem Wort.


Was liegt daran! Das Wort vergeht,

Die Kunst, der Mensch, die Welt besteht.


Doch wenn, nicht mehr wie sonst geneigt,

Das Lied dir, gleich den Nachbarn, schweigt,

Dann denke, still in dich gekehrt:

Sind wir es noch zu hören wert?

Nahm etwa der Erkenntnis Baum

Nicht dem des Lebens Luft und Raum?

Die Wahl schon einmal schwer sich wies,

Sie kostete das Paradies.

Quelle:
Franz Grillparzer: Sämtliche Werke. Band 1, München [1960–1965], S. 281-282.
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