15.

Christi Gang zum Tode

[137] Auff die Melodie: deß 42. Psalms.


1.

Der den Bau der Himmel träget/

Vnd der Erden Grund erhält:[137]

Wird mit einer Last beleget/

Da Er vnter sinckt vnd fällt.

Der verfluchte Baum der Pein/

Muß deß Herren Bürde seyn/

Eh Er vor die Schuld der Erden

Kan am Baum geopffert werden.


2.

Zwey/ die Mord vnd Blut-vergiessen/

Aller Welt zum Greuel macht/

Werden mit Ihm hingerissen/

Den man gleich den Mördern acht?

Der die Missethat außsönt.

Dehn die Vnschuld selber krönt/

Muß verflucht am Holtz sein Leben

Mit verfluchten vor vns geben.


3.

Als Ihm Geist vnd Kräfft entgingen/

Als Er beb't vnd niederfiel;

Muß man den Cyrener zwingen/

(Weil Er sichs enteusern wil)

Daß Er Arm vnd Hand anlegt/

Vnd das schwere Creutze trägt.

Man siht vmb Ihn Tausend Hauffen

Nach dem Schedelberg zu lauffen.


4.

Sehr viel Frauen hört man klagen/

Die beweint den grausen Tod.

Die/ die Jammerreichen Plagen/

Die/ der langen Schmertzen Noth.

Die/ der treuen Freundschafft Band/

Biß Er sich zu ihnen wandt/

Da begund ihr Hertz zu brechen/

Als sie Ihn diß hörten sprechen:


5.

Kinder Sions! liebe Frauen!

Töchter Salems weint doch nicht!

Daß Ich ietzt den Tod muß schauen/

Daß man mir diß Vrtheil spricht.

Weint! ach weint! wo ihr versteht/[138]

Was Euch vnd eur Blutt angeht!

Schlagt die Brüste! wind't die Hände

Vber euer Frucht Elende!


6.

Weil die grimme Zeit erscheinet/

Darinn ieder selig schätzt:

(Weint! ach weint! Ihr Mütter weinet)

Die nicht eine Frucht ergetzt.

Man wird ruffen hier vnd dar/

Selig ist/ die nie gebahr!

Der kein Kind ie ward gewehret;

Die nichts an der Brust ernehret.


7.

Berge (wird man alsdann sagen)

Schüttert Euch auff vns entzwey!

Hügel deckt vns vor den Plagen!

Macht vns vor dem Jammer frey!

Denn/ wenn diß der Baum empfand/

Den man immer grüne fandt:

Denckt/ was man dem werd erzeigen/

Der verdort in Sta i vnd Zweigen!

Quelle:
Andreas Gryphius: Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werke. Band 1, Tübingen 1963, S. 137-139.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Angelus Silesius

Cherubinischer Wandersmann

Cherubinischer Wandersmann

Nach dem Vorbild von Abraham von Franckenberg und Daniel Czepko schreibt Angelus Silesius seine berühmten Epigramme, die er unter dem Titel »Cherubinischer Wandersmann« zusammenfasst und 1657 veröffentlicht. Das Unsagbare, den mystischen Weg zu Gott, in Worte zu fassen, ist das Anliegen seiner antithetisch pointierten Alexandriner Dichtung. »Ich bin so groß als Gott, er ist als ich so klein. Er kann nicht über mich, ich unter ihm nicht sein.«

242 Seiten, 11.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.

442 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon