169. Die Jungfrau Lorenz und der Hirsch zu Tangermünde.228

[151] Es lebte vor langen Jahren zu Tangermünde eine holde Jungfrau, Emerentia Lorenz geheißen, die war ebenso gut als schön, und die ganze Stadt war stolz auf ihre Jungfer Lorenz. Sie war aber auch sehr reich, denn außer einem Hause in der Stadt, das voll war von Kostbarkeiten und herrlichem Hausgeräthe und Betten und Weißzeug, gehörte ihr auch vor der Stadt ein großes Stück Wald und am Saume desselben gar viele lachende Felder. Nun geschah es, daß zu Anfang der Frühlingszeit, als die Sonne wieder mild und freundlich hineinlächelte in die erstarrte Welt und die Lerchen jubelnd dem jungen Lenze entgegensangen, Frühlingssehnsucht die Jungfrau hinaustrieb in die Waldeinsamkeit. Da es aber gerade um die Pfingstzeit war, so war Niemand auf den Feldern, und die Jungfrau war ungesehen in den Wald getreten. In diesen vertiefte sie sich immer mehr, und nachdem sie einige Stunden in demselben gelustwandelt, da kam der Schlaf über sie, sie setzte sich ins Gras und schlief bald ruhig ein. Als sie wieder erwachte, da war die Sonne schon ziemlich tief im Westen und sie dachte, es sei Zeit heimzukehren. Allein da sie keinen Laut im dichten Walde hörte, fing ihr an recht bange zu werden und sie sehnte sich nach Hause. Sie schlug auch, wie sie glaubte, den richtigen Weg ein, allein als sie eine Weile darauf fortgegangen war, kam ihr doch die Gegend weniger bekannt vor, sie wurde zweifelhaft und ängstlich, fing an einen andern Waldpfad zu betreten, allein sie kam nur noch mehr ins Dickicht, zuletzt ward gar der Weg alle und sie mußte sich gestehen, daß sie sich verirrt habe. Mittlerweile war es finster geworden, sie mußte also die Hoffnung aufgeben, für heute nach Hause zurückzukehren und sich entschließen, die Nacht im Walde unter freiem Himmel zuzubringen. Dies that sie denn auch, warf sich laut weinend auf den Rasen, allein obwohl sie den ganzen Tag keinen Bissen gegessen, schlief sie doch bald vor Müdigkeit ein. Als sie erwachte, war der Morgen angebrochen, die Sonne glänzte durch die Gipfel der Bäume und alle Stimmen des Waldes wurden laut. Mit dem Tageslicht kehrte auch wieder Muth in ihr angsterfülltes Herz zurück, sie machte sich von Neuem auf den Weg, um den ihr so wohl bekannten Pfad nach Hause zu suchen, allein es ward Abend und sie hatte ihn noch nicht gefunden. Zwar hatte sie ihren Hunger durch einzelne halbreife Beeren zu stillen gesucht, allein als die Sonne abermals untersank, fühlte sie sich noch matter und schwächer als gestern, sie sank in Verzweiflung zu Boden und ein wohlthätiger Schlaf raubte ihr das Bewußtsein ihrer schrecklichen Lage. Als aber der dritte Morgen anbrach, da hatte sie der Schlaf doch soweit erquickt, daß sie sich vornahm, noch einmal den Versuch zu machen, aus dem Waldlabyrinth herauszukommen. Vorher aber betete sie inbrünstig zu Gott und that das Gelübde, daß, wenn er ihr den Ausgang[151] aus dem Walde zeigen und sie in ihr friedliches Vaterhaus zurückführen wolle, werde sie sich ihm allein ergeben und Zeit ihres Lebens nur ihm dienen und sich nie vermählen. Kaum hatte sie dieses Versprechen ausgesprochen, da brach ein Edelhirsch durch das Dickicht und blieb im Laufe anhaltend vor der Knieenden stehen. Furchtlos verharrte das herrliche Thier an ihrer Seite und schien sich gewissermaßen über ihre Anwesenheit an diesem Orte zu wundern. Zuletzt berührte er sie gar mit seinem Geweih und schien sie auffordern zu wollen, mit ihm fortzugehen. Als sie ihn aber nicht verstand, da ließ er sich auf die Kniee nieder und lud sie anscheinend ein, sich seinem Rücken anzuvertrauen. Die erschrockene Jungfrau zögerte auch nicht, denselben zu besteigen und, o Wunder, das Thier trug sie mit sicherem Tritt durch den Wald bis an den Ausgang desselben, da wo Tangermünde mit seinen Thürmen vor ihr lag. Aber selbst hier machte der Hirsch noch nicht Halt, sondern er trug seine zarte Bürde furchtlos mitten durch das zusammenströmende Volk bis in die Straßen der Stadt und nahm seinen Lauf bis zur Kirche, dort ließ er sich freiwillig auf die Kniee nieder, Jungfrau Lorenz stieg ab, trat in das Gotteshaus, um Gott für ihre wunderbare Rettung zu danken, der Hirsch aber hatte unterdessen ruhig vor der Kirchenpforte gewartet und begleitete sie von da wie ein frommes Lamm in ihr Haus, wo er von Stund an blieb. Zwar kehrte er manchmal auf Stunden in seine alte grüne Heimath zurück, allein nie blieb er lange weg, und da sie ihm ein Halsband angelegt hatte mit der Inschrift: Emerentia's Hirsch, so kannte ihn Jedermann und Niemand in der ganzen Umgegend hätte gewagt, dem guten Thiere etwas zu Leide zu thun. Jungfer Lorenz aber blieb dem frommen Gelübde, welches sie vor dem Altare der Nikolaikirche gethan hatte, eingedenk, sie blieb unvermählt und gab das Lorenzfeld der Kirche zu erb und eigen für ewige Zeiten, in der Kirche aber ließ sie einen Hirschkopf aufhängen, auf welchem sie selbst in ganzer Figur dargestellt ist. Derselbe ist noch vorhanden, zwar wird die Kirche jetzt nur noch als Lazareth benutzt und es sind alle andern Bilder und Zierrathen darin zerstört, allein das Bild der Jungfer Lorenz hat noch kein Mensch von der Stelle zu rücken gewagt, und die Lazarethwächter hören oft einen gewaltigen Lärm, der durch das ganze Gebäude dringt, wenn es einmal Einer wagte, auch nur an die Zacken des Hirschgeweihes zu fassen oder auch nur etwas daran aufzuhängen. Zwar ist jener Wald, der zwischen den Dörfern Grobleben und Böhlsdorf log, jetzt verschwunden, und statt der Bäume erblickt man auf seiner Bodenfläche nur lachende Felder und Wiesen, allein sein alter Name, das Lorenzfeld, ist ihm bis heute geblieben.

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Nach Huldreich, Jungfer Lorenz. Tangermünde 1842 in 8. Pohlmann und Stöpel a.a.O. S. 6 etc. Kahlbau, Erzählungen und Sagen aus der Altmark. Tangermünde 1845 in 8. S. 153 etc.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 1, Glogau 1868/71, S. 151-152.
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