215. Die Spinnerin im Monde.278

[196] In der Gegend von Salzwedel erzählt man sich folgende Sage, die sich in einem Dorfe der Gegend zugetragen haben soll, dessen Namen man aber nicht mehr erfahren kann. In dem Dorfe lebte eine arme, alte Wittwe, mit ihrer einzigen Tochter, Namens Marie. Die Mutter war krank und schwach und konnte nicht mehr arbeiten. Das schadete aber nicht, denn Marie war die beste Spinnerin weit und breit, sie konnte täglich drei Stück Garn spinnen und ihr Faden war doch der feinste; dadurch ernährte sie sich und ihre Mutter. Sie hatte leider nur einen einzigen Fehler an sich, sie war wild und leichtsinnig, und sie mußte bei jedem Spektakel und bei jeder Tanzerei sein. Sie verursachte dadurch ihrer frommen Mutter vielen Kummer, und diese machte ihr Vorwürfe und Ermahnungen genug, allein das half nichts. Besonders im Spätherbst und Winter ging die Lust des Mädchens los, wenn die jungen Leute zum Spinnen zusammenkamen, was man das Spinnekoppel hieß. Es wurde dann gespielt, gelärmt, gesungen und getanzt, und anstatt zu ordentlicher Zeit auseinander zu gehen, wurde es späte Nacht darüber. Am tollsten dabei und die letzte, die zu Hause kam, war Marie. Die Mutter hatte das lange in Geduld angesehen, weil ihre Ermahnungen doch nichts helfen konnten. Einmal aber auf Marientag, als Marie wieder zu der Spinnekoppel ging, sagte sie zu ihrer Tochter: versprich mir nur heute, daß Du vor Mitternacht zu Hause kommen und Dich nicht auf der Straße herumtreiben willst. Heute ist unser lieben Frauen Tag, und wenn da die Kinder ungehorsam gegen ihre Eltern sind, so werden sie auf der Stelle bestraft. Das ging der Marie ins Herz, daß sie weinte, und sie versprach ihrer Mutter, sie wolle gewiß nicht wieder spielen, so wahr der Mond am Himmel stehe. Mit diesem Versprechen nahm sie ihr Rad[196] und ging. Sie hatte aber kaum eine Stunde gesponnen, als draußen Gesang und Musik laut wurde und die jungen Bursche des Dorfes ankamen. Sie hatten Spielleute geholt, die Spinnräder wurden an die Seite geworfen, und Alles tanzte und sprang. Marie wollte zwar anfangs nicht mittanzen, aber die Musik und die Lust und die Bitten der Bursche drangen tiefer in ihr Herz als das Versprechen, das sie ihrer Mutter gegeben hatte. Es war schon lange Mitternacht vorüber, als man sich endlich anschickte, aus einander zu gehen. Die Musik mußte sie aber noch auf die Straße begleiten, und als sie an dem Kirchhofe vorbeikamen und dessen Thür offen fanden, da ergriffen die Bursche die Mädchen und zogen sie auf den Kirchhof, wo das Tanzen von Neuem losging. Marie hatte ihr Versprechen ganz vergessen und sprang lustig mit in hellem Mondenschein.

Ihre Mutter saß unterdessen unruhig in ihrem Stübchen und wartete mit Schmerzen auf ihre Tochter. Da hörte sie auf einmal aus der Ferne das Schreien und Lärmen auf dem Kirchhofe. Sie konnte sich nicht mehr halten, sie ging aus dem Hause und folgte dem Lärm. So kam sie auf den Kirchhof, wo sie ihre Tochter mitten unter den Springenden sah. Der Anblick zerschnitt ihr das Herz. Sie befahl ihr, sofort mit ihr nach Hause zu gehen. Das Mädchen aber erwiderte ihr: ei Mutter, der Mond scheint noch so helle! Geh Du nur, ich komme bald! Da sah die alte Frau in den Mond und verfluchte ihre Tochter. Ich wollte, sagte sie, das ungerathene Kind säße im Monde und müßte da oben spinnen! – Die Worte hatte sie kaum gesprochen, da war die Marie aus den Reihen der Tanzenden verschwunden, und man sah sie mit ihrem Rade in der Hand rasch wie ein Blitz dem Monde zu fliegen. – Im Monde sitzt sie noch und spinnt; wenn er ganz hell scheint, dann kann man sie deutlich spinnen sehen. Sie spinnt feine und zarte Fäden, die fallen zur Herbstzeit auf die Erde hinunter, der Wind jagt und zerreißt sie dann und treibt sie auf Hecken und Bäume. Die Leute nennen sie Sommerseide oder Marienfädchen oder auch Altenweibersommer.

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Nach Temme S. 41 etc.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 1, Glogau 1868/71, S. 196-197.
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