296. Das eingemauerte Kind am Krökenthor zu Magdeburg.361

[242] Das jetzige Krökenthor ist unter dem Erzbischof Albert II. zugleich mit der hohen Pforte erbaut worden, man hat aber bei dieser Gelegenheit zwei steinerne Füße als ein altes Wahrzeichen mit eingemauert, welches die folgende schauerliche Sage auf die Nachwelt bringen sollte. Als nämlich Kaiser Otto die Stadt Magdeburg zu einer Festung machen wollte, da trug es sich zu, daß das alte Krökenthor jedesmal, wenn es fertig geworden war, wieder einstürzte, ohne daß man die Ursache davon entdecken konnte. Der Kaiser befragte also einen Astrologen um den Grund, und derselbe gab, nachdem er die Sterne befragt, zur Antwort, das Thor und somit der Schluß des Festungbaues werde nicht eher bestehen, bis ein von einer Mutter freiwillig angebotenes, zartes Knäblein lebendig mit eingemauert werde. Ob nun wohl der Kaiser und seine Räthe daran verzweifelten, daß sich eine so gottlose Mutter finden werde, die für Geld ihr Kind dem Tode opfern werde, hat man doch den Scharfrichter beauftragt, in der Stadt und Umgegend herum zu gehen und zuzusehen, ob er nicht für eine hohe Summe ein solches Kind zu kaufen bekommen könne. Derselbe hat sich auch lange umsonst bemüht, ein solches aufzufinden, endlich aber hat er doch eine leichtsinnige Person getroffen, welche bereit gewesen ist, ihren Säugling zu diesem Zwecke hinzugeben. Es war ein uneheliches Kind, und sie bildete sich ein, dann, wenn sie ein kleines Vermögen besitze, einen Mann zu finden, der sie durch die Ehe wieder zu Ehren bringe. So ist es auch geschehen, das herzlose Frauenzimmer hat trotzdem, daß ihr die Richter vorher nochmals vorgestellt, daß sie sich wohl überlegen solle, was sie thue, ihr Kind hingegeben, hat aber, allgemein verabscheut, doch Niemanden finden können, der mit ihr ein Ehebündniß eingehen wollte, und ist plötzlich aus Magdeburg verschwunden. Das unglückliche Kind ist aber wirklich in dem Mauerwerke des gedachten Thores in einer Art Nische, in welcher es weder von dem Gestein erdrückt werden, noch aus Mangel an Luft ersticken konnte, eingemauert worden, nachdem man gleichsam zum Hohn vor seinem Munde ein Pfennigbrot befestigt hatte. Seit diesem Augenblicke hat sich auch Niemand weiter um das eingemauerte Kind bekümmert und die gräßliche Unthat ist gänzlich in Vergessenheit gerathen.[242] Da ist über funfzig Jahre später, um das Jahr 987 ein altes Mütterchen zu dem Erzbischof Gieseler gekommen und hat denselben fußfällig gebeten, er möge doch die Gnade haben, in dem steinernen Mauergewände der Eingangspforte, die sie bezeichnen werde, nach dem Skelett ihres Knaben suchen lassen, der vor vielen Jahren beim Bau der Festungsmauer dort lebendig eingemauert worden sei. Hierauf erzählte sie dem staunenden Erzbischof ihre Geschichte und fügte hinzu, sie habe seit jener Zeit gefoltert von Gewissensbissen in Thüringen bei Verwandten gelebt, da sei ihr seit vielen Wochen ihr Knabe im Traume erschienen und habe ihr gesagt, er sei noch am Leben, denn ein Vogelpaar, welches über ihm genistet, habe ihm 50 Jahre lang die ihm nothwendige Nahrung mit den Schnäbeln zugetragen. Sie habe also an ihrem bisherigen Wohnorte nicht mehr bleiben können und sich hierher gebettelt; als sie aber an das Thor und an jene Stelle gekommen, wo einst ihr Knäblein eingemauert worden sei, da habe sie aus dem Gestein mehr als einmal »Mutter« rufen hören, als wenn sie durch diesen Ruf aufgefordert werde, seine Erlösung aus dem Gemäuer zu veranlassen. Der Erzbischof hat ihrer Bitte auch gewillfahret, man hat Leitern an das Gemäuer gelegt, und der erste, der sie bestieg, fand auch nach Hinwegräumung einigen Steingerölles hoch oben nicht nur die offene Nische, sondern erblickte auch darin eine menschliche Figur, die ihn mit funkelnden Augen anstarrte. Er stieg entsetzt herab und sagte, er habe in der Höhlung ein kleines graues Männchen gefunden, dessen langer, weißer und zottiger Bart tief in das Gestein verwachsen war, über seinem Haupte befand sich zwischen zwei Steinplatten eine Vertiefung, in welcher die Vögel genistet hatten, und vor dem Munde des Männchens hingen noch sichtbar die Brocken von gegessenem Brote. Der Beherzte stieg dann zum zweiten Male mit einem Gehilfen hinauf, es gelang ihnen auch, das Männchen aus der Nische hervorzuziehen, sie behaupteten zwar später, es habe dabei geseufzt, allein als sie dasselbe zur Erde brachten, da fand sich, daß das Männlein mit dem weißen Barte eine versteinerte Kindesleiche war. Der Körper wurde nach christlichem Gebrauche beerdigt, die unnatürliche Mutter aber war verschwunden, und ihr Leichnam ward erst lange nachher auf einem Sandhügel vor dem Krökenthor so entstellt gefunden, daß man ihn nur noch an den Lumpen, die sie getragen, wieder erkannte. Das Weib wurde hier eingescharrt und noch heute sieht man an jener Stelle zuweilen ein helles Flämmchen, welches die Stelle andeutet, wo die gottlose Mutter begraben ist.

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Nach Relßieg Bd. I. S. 3 etc.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 1, Glogau 1868/71, S. 242-243.
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