351. Der rothe Thurm, die Hungerquelle, der Roland und St. Katharina zu Halle.423

[309] Gewöhnlich sind die sogenannten rothen oder Mantelthürme da vorhanden gewesen, wo Burggrafengerichte waren. Da nun letztere mit Beginn der Landeshoheit verschwanden und viele derselben bereits im 13. und 14. Jahrhundert und theilweise noch früher aufgehoben waren, so verschwanden auch diese rothen Thürme selbst in ihrer ursprünglichen Bedeutung beim Volke. Daß aber der rothe Thurm zu Halle sich nicht nur dem Namen nach so lange erhalten hat, sondern sogar zu einer Zeit, wo überall schon die Burggrafengerichte erloschen waren, neu erbaut worden ist, hatte seinen Grund darin, daß die Landesherren von Halle als Burggrafen zu Magdeburg auf die Gerechtsame des rothen Thurmes hielten und den damit verbundenen Roland ebensowenig fallen ließen. Daher drang auch namentlich der Churfürst Johann Friedrich von Sachsen[309] im Jahre 1647 darauf, daß der Roland wieder neben dem rothen Thurme aufgesetzt werden sollte. Im Jahre 1506 ward der Bau des rothen Thurms aus lauter Quadersteinen unter Erzbischof Ernst beendigt, nachdem unter dem den Hallensern günstigen Kurfürsten Friedrich I. im Jahre 1418 der Grund gelegt und unter Kurfürst Friedrich II. laut der Inschrift eines Steines der Abendseite: »Anno domini Millesimo CCCCXLVII. locatus est lapis iste«424 der Bau im Jahre 1446 bereits bis zum Zifferblatte gediehen und nach einer etwas unterhalb des Daches angebrachten zweiten Inschrift der Mittagsseite: »Anno domini MCCCCLXX. locatus est iste lapis per Joh. rod.« der Bau ziemlich im Jahre 1470 vollendet worden war. Doch in Folge der 1478 ausgebrochenen städtischen Unruhen und Zwietracht sistirte man den Bau bis zum Jahre 1504, so daß er erst am 24. Juli 1506, 140 Ellen hoch, sammt Satteldach und hohem Dachreiter nebst vier Nebenthürmchen zu Ende gebracht und geweiht werden konnte. Bei der dritten Restauration des Thurmes im Jahre 1659 fand man in dem 1506 aufgesetzten höchsten Knopfe eine lateinische Urkunde425, nach welcher mehrere Reliquien von der Legion des heil. Mauritius, zwei Köpfe von den 11,000 Jungfrauen etc. in denselben gelegt worden waren.

Noch als eine Merkwürdigkeit dieses den Markt zu Halle wahrhaft zierenden Thurmes ist ein an der Mittagsseite desselben zu Tage ausfließender Brunnenquell, welcher im Volksmunde die Hungerquelle heißt, zu betrachten. Man behauptet von demselben, daß er durch das Wachsen und Abnehmen seiner Wassermenge die theure und wohlfeile Zeit verkünde, aber so, daß wenn er fast überströme, stets ein theures Jahr, und wenn er fast ganz versiege, die wohlfeilsten Getreidepreise angezeigt würden.

Als ein verwandtes Wahrzeichen des rothen Thurmes ist das vorhin schon erwähnte Rolandsbild, die Blut- und Königsbannsäule der alten hallischen Filialgerichtsbarkeit des Burggrafenamtes zu Magdeburg anzusehen. Ob das erste ursprüngliche Holzbild, das reich mit Farbe und Vergoldung staffirt war, seine Entstehung gleichzeitig mit dem ersten Burggrafengerichte, dem Schöppenstuhle auf dem Berge (im Gegensatze zu dem noch ältern Schöppengedinge des Salzgräfen oder dem Thalgerichte) zu Halle gehabt oder ob es, was wahrscheinlicher ist, erst zu Anfang des 14. Jahrhunderts entstanden, läßt sich nicht genau bestimmen. Nach dem Chronisten war der Roland bereits vor dem Jahre 1341 vorhanden und stand auf der auf einem angefahrenen Hügel neben dem Rathhause (an der Seite, wo später die Rathswage hinkam) befindlichen Dingstette. Als man jedoch daselbst an der Ecke einen Thurm aufführte, sah man sich veranlaßt, den Roland in die Nähe des inmitten des Marktes stehenden rothen Thurmes zu versetzen, welcher das ursprüngliche Schöppenhaus war und zugleich als eine Art Frohnfeste mitgedient haben mag. Nach den Unruhen der Hallenser im Jahre 1478 hat der Erzbischof Ernst als Zeichen der Unterwerfung der Stadt den Roland im Jahre 1481 mit einem Gehäuse versehen und soll auch im nächsten Jahre den feierlichen Aufzug nebst Frohntanz, der seit undenklicher Zeit alljährlich vor dem Roland stattgefunden hatte, abgeschafft haben.[310]

Mittlerweile (um 1513) hatte der Roland, dem im Jahre 1503 ein Sturm seine Bedachung zertrümmerte, so ziemlich wieder seine frühere Stelle erhalten. Die Chronisten erzählen nämlich, daß, als am Neujahrstage 1547 der Kurfürst Friedrich von Sachsen seinen krieggerüsteten Einzug in Halle hielt, derselbe vor den großen Roland geritten sei und sogleich Befehl ertheilt habe, denselben aus dem Gehäuse an der Wage zu nehmen und ihn an dem rothen Thurme sofort wieder aufzustellen, um die Wiederbesitznahme des Burggrafenamtes zu Magdeburg und die Lehnsherrenbefugniß über das Schultheißenamt damit zu manifestiren. Er sei deshalb desselben Nachmittags um den neu aufgestellten Roland mit dem Gefolge in Parade geritten und habe dann erst seine Herberge auf dem Rathhause bezogen, worauf auch am 3. Januar die Einweihung des Schultheißen und der acht rechtserfahrenen Schöppen erfolgte. Der Roland erhielt nun von Neuem eine Ueberdachung, die zugleich den das peinliche Gericht hegenden Richtern und schöppenbaren Beisitzern als Schutz gegen üble Witterung dienen sollte. Bis zum Jahre 1718 hatte der Roland nunmehr Ruhe. Doch als in diesem Jahre der König Friedrich Wilhelm von Preußen, nachdem Halle 1680 in Folge des westphälischen Friedens an Brandenburg gekommen war und die Stadt außerdem bereits 1699 das dasige Schultheißengericht vom Administrator des Erzstifts, dem Herzog August zu Sachsen, übernommen hatte, die Hauptwache am rothen Thurme erbauen ließ, mußte er abermals weichen. Das alte vielzerrissene hölzerne Rolandsbild ward zur einstweiligen Aufbewahrung auf den Bauhof vor dem jetzigen Leipziger Thore geschafft, doch als dieser im nächsten Jahre in Flammen aufging, fand auch der alte Roland seinen Untergang. Es ward nun nach diesem Jahre, also nicht schon 1717, der jetzige kolossale steinerne Roland vor dem Schöppenhause aufgestellt, weil durch denselben das der Stadt bis gegen die Mitte des 18. Jahrhunderts gebliebene peinliche Halsgericht angezeigt werden mußte. Ueber ein Jahrhundert hatte diese Rolandssäule hier gestanden und unterdessen war das Schöppenhaus in das Hotel zur Börse umgestaltet worden, als im Jahre 1851 die Behörde ihn dort entfernte und ihm seine jetzige Stellung an der südlichen Seite des rothen Thurmes, jedoch mit einem Wetterdach gab.

Die Statue über dem Eingangsthor auf der dem Burghofe zugekehrten Seite der Moritzburg ist die der heil. Katharina, der Mitpatronin des Erzbisthums Magdeburg, da sich zu den Füßen derselben die Fragmente eines Rades, ihres bekannten Attributs, mit ziemlicher Bestimmtheit erkennen lassen.

423

S.W. Schäfer in der Illustr. Zeitung 1858. I. Halbj. S. 82.

424

Dieser Stein hier ist im Jahre 1446 gesetzt worden durch Joh. Rod.

425

Abgedruckt bei Olearius, Haligr. S. 221 etc.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 1, Glogau 1868/71, S. 309-311.
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