638. Die großen Laternen an der Abendseite der Domthürme zu Halberstadt.751

[594] Am Dome zu Halberstadt befinden sich noch heute auf der Abendseite zwei Laternenthürmchen von starkem geschmiedeten Eisen, zwei Fuß im Durchmesser und vier Fuß hoch bis zum Dache. Das Dach ist von starkem Eisenblech mit einem kupfernen Knopfe und mißt in der Höhe drei Fuß. Der Untertheil, welcher mit großen Glasscheiben ausgesetzt ist, hat ein Achteck zur Basis; in der Mitte derselben befindet sich ein großer eiserner Stachel, der darauf schließen läßt, daß man früher auf ihn starke Wachslichter aufgesteckt hat. Die Thürme müssen mindestens in's 15. Jahrhundert gehören, denn im Jahre 1553 sind sie mit rother Oelfarbe angestrichen und neu verglast worden.

Dieselben verdanken ihre Entstehung einer milden Stiftung. Einst war ein Domcapitular des Stifts Halberstadt auf dem demselben zugehörigen Amte Zilly während eines stürmischen Novembertages mit Rechnungen-Durchsehen beschäftigt gewesen, er war länger als gewöhnlich aufgehalten worden und so war es schon fast finster, als er gegen fünf Uhr Abends sein Roß bestieg, um nach Halberstadt zurückzureiten. Allein kaum war er aus dem Amtshofe heraus, so wuchs der Wind zum Orkan, der herabrauschende Regen peitschte ihm und dem Rosse in's Gesicht, so daß er mit Mühe Ströbeck erreichte, allein gleichwohl hoffte er doch noch in die Stadt zu kommen und deshalb zog er es vor, seinen Weg fortzusetzen, anstatt hier zu rasten. Indeß das Unwetter nahm immer mehr zu, und sehr bald gewahrte er, daß er vom richtigen Wege abgekommen sei, sein Pferd stürzte einmal über das andere in die Kniee und schon hatte er die Hoffnung aufgegeben, die Thürme der alten Domstadt wieder zu sehen, da gewahrte er auf einmal in der Ferne ein hohes Licht und hörte im Dome acht Uhr läuten. O wie lieblich klangen diese ihm wohlbekannten Glockentöne in sein lauschendes Ohr und voll freudigen Staunens sah er das Licht in des Küsters Leuchte. Schnell wandte er[594] sein Roß, Dunkelheit und Gefahr vergessend, und eilte dem Lichtlein zu; eben hatte er den richtigen Weg erreicht, als die Töne der Glocken im brausenden Sturme verhallten und des Küsters Leitsternlein verschwand. Durchnäßt, theils vom Regen, theils vom Angstschweiße, mit einigen leichten Quetschungen, die er beim Sturze des Pferdes erhalten, traf er bald glücklich wieder in seiner Behausung ein und beschloß aus Dankbarkeit für seine glückliche Rettung ein Vermächtniß zu machen, nämlich zwei große Laternen in Form kleiner Thürme an den Domthürmen anbringen zu lassen, damit künftighin Jedermann, der von Zilly am späten Abend käme, immer die Lichter zu Leitsternen habe. Bald waren die Leuchtthürmchen fertig; sie haben sich, während der Name ihres Stifters nicht auf uns gekommen ist, bis auf die Jetztzeit erhalten, obwohl ihr Licht nicht mehr nöthig ist, da von Halberstadt nach Zilly jetzt lange schon eine Kunststraße führt.

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Nach den Sagen und Geschichten aus der Vorzeit des Harzes S. 16.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 1, Glogau 1868/71, S. 594-595.
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