647. Die steinernen Bauermeister und die Trappen.760

[603] Auf der Höhe der jetzt wüsten Dorfstätten Klein-Wulferstedt und Harmsdorf (nördlich von der jetzigen Nienburg zwischen Wulferstedt und Eilenstedt) standen bis zum Jahr 1838 zwei große Steine, genannt der große und der kleine Bauermeister. Davon wird folgende Sage erzählt.

Zwischen den Bewohnern der beiden Dörfer hatte ein heftiger Streit wegen eines Fahrweges, der über die Harmsdorfer Aecker nach Nienburg und weiterhin nach Halberstadt führte, sich entsponnen. Denn die Klein-Wulferstedter behaupteten, es sei dieser Weg seit undenklichen Zeiten vorhanden und befahren gewesen; die Harmsdorfer dagegen wollten diesen Weg als einen verbotenen auf den Anger daneben verlegt wissen, pflügten den Weg um und versperrten ihn durch aufgeworfene Gräben. Die Klein-Wulferstedter aber warfen die Gräben wieder zu, befuhren den Weg wie vorher und richteten obenein aus Muthwillen manchen Schaden in dem Kornfelde an. Da ergrimmten die Harmsdorfer, lauerten in der Nacht den Klein-Wulferstedtern auf, erschlugen zwei Fuhrleute und verscharrten die Leichname an der Stätte, wo nachmals die zwei Steine zu sehen waren. Der Mord blieb aber nicht verborgen. Das Vehmgericht erhielt durch seine überall umherschleichenden und horchenden Freischöffen Nachricht von der Unthat und ließ nun die Dorfschaften sammt den erforderlichen Zeugen zum ersten Juni vor seinen furchtbaren Richterstuhl laden. Unterdessen hatten aber die Harmsdorfer einen der Freischöffen kennen gelernt und für ein gutes Stück Geld von ihm den Rath erhalten, den ihnen gefährlichsten Zeugen, einen achtzigjährigen Greis, aus dem Wege zu schaffen und nachher Alles abzuschwören. Der Rath ward[603] befolgt, der Greis heimlich erschlagen und gleichfalls bei jenen zwei Steinen verscharrt. Als der letzte Mai erschienen war, fanden sich die Herren des Freistuhles, der Freigraf, die Beisitzer und Schöffen auf der Huyseburg ein. Da die Verrätherei des einen Schöffen bereits an den Tag gekommen war, befahl der Graf, den Sünder 7 Fuß höher als andere Verbrecher an der höchsten Pappel anfzuhenken und zum Zeichen, daß solches nach Urtheil der heiligen Vehme geschehen sei, ihm das Messer des Gerichts in's Herz zu bohren und dort stecken zu lassen. Obgleich nun die Harmsdorfer am nächsten Morgen den Verräther am Baume gerichtet sahen, blieben die beiden Bauermeister doch verstockt bei ihrem Vorsatze, nichts zu bekennen und den Mord abzuschwören. Mit Aufgang der Sonne gab ein dreimaliger Schlag mit der großen Huyseburger Glocke das Zeichen, daß jetzo der Freiding werde gehegt und gehalten werden. Der Freistuhl wurde auf der Stelle des Verbrechens aufgerichtet, die beiden vorgeladenen Gemeinden, die eine zur Rechten, die andere zur Linken gestellt, die beiden Bauermeister aber in die Mitte des Kreises, an den Ort, wo die Erschlagenen verscharrt worden waren. Als der Freigraf, dem ein Mönch das Kreuz vortrug, den Stuhl des Gerichts eingenommen hatte, verlas ein Schöffe die Verbrechen, welche an dieser Stätte verübt worden seien. Darnach wurde den beiden Bauermeistern geboten, auf der Stelle, wo die Erschlagenen verscharrt wären, niederzuknieen und einen Eid abzulegen, daß sie sich keiner Theilnahme an dem Morde schuldig wüßten, auch daß die Harmsdorfer ihres Wissens nicht verpflichtet wären, den Weg über ihre Aecker zu gestatten. Und ringsum kniete nach Befehl des Gerichts die Gemeinde, Männer und Weiber. Der entscheidende Augenblick erschien. Noch immer entschlossen, durch einen Meineid die Schuld von sich abzuwälzen, erhoben die zwei Bauermeister ihre rechte Hand, um den falschen Schwur auszusprechen, als sie plötzlich in die zwei Steine verwandelt wurden und in demselben Augenblick flog auch die ganze mitschuldige Gemeinde, in ungestaltete Trappen verwandelt, mit erbärmlichem Geschrei in die Luft und davon. Der Freigraf aber sprach: »Wo Gott richtet, darf der Mensch nicht richten. Geht! Der Freiding ist aus!«

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S. Sagen aus der Vorzeit des Harzes S. 64.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 1, Glogau 1868/71, S. 603-604.
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