c) Der gefangene Riter im Thurm.

[245] Einst hatte ein Burgherr auf dem Kynast einen seiner schlimmsten Feinde in einer Fehde in seine Gewalt bekommen. Da er nun ein harter, grausamer Mann war, so ließ er ihn in ein wohlverwahrtes Gemach hoch oben im Burgthurme einsperren und schwur, sein Feind solle es niemals lebend wieder verlassen. Vergebens machte sich die junge und schöne Hausfrau des gefangenen Ritters auf und bat den harten Mann fußfällig um die Loslassung ihres Gemahles. Sie ward schnöde abgewiesen, nur das erreichte sie, daß jener ihr gestattete, das Brod, welches derselbe zu essen bekam, für ihn backen zu dürfen. Sie buk also einst ein sehr großes Brod und sandte es dem Gefangenen, als derselbe es aber aufschnitt, fand er darin eine scharfe Feile und ein sehr langes Seil verborgen. Heimlich feilte er nun des Nachts damit das Gitter seines Gemaches durch und ließ sich in einer stürmischen Nacht mit dem Seile von der Höhe des Thurmes herab. Es gelang ihm auch glücklich hinab und dann über die Burgmauer ins Freie und endlich auch wieder in seine Burg zu seiner Gattin zu kommen. Sein Feind aber sah sich von einer einfachen Frau überlistet. Das an einer Seite durchbrochene Gitter am Thurme ist noch heute als Wahrzeichen treuer Liebe und Frauenlist vorhanden.

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Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 245.
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