405. Der Jungfrauenbrunnen bei Stargard.

[454] (S. Pröhle, Deutsche Sagen. Berlin 1863 S. 105 nach einem Volksliede in »Des Knaben Wunderhorn« 1845, II. Abth. Bd. I. S. 299-304.)


Zu Stargard befindet sich ein Brunnen, mit Linden besetzt, der heißt der Jungfrauenbrunnen. Dort hatten sich vor langen Jahren zwei Liebende hinbeschieden, die Jungfrau kam eher hin an diesen Ort, hing ihr Kränzlein an die Linde und legte den Mantel nieder. Bald erblickt sie im Mondschein eine daherkommende Löwin, floh und verkroch sich, um ihr Leben zu retten, ziemlich weit von dem bestimmten Orte in einen Winkel. Die Löwin packte den Mantel, machte ihn blutig und lief dann mit ihren Jungen davon. Kurz darauf kommt aber ihr Liebhaber, ein junger Ritter, dorthin, und als er den blutigen Mantel und das Kränzlein dort hängen sieht, macht er sich den traurigen Gedanken, daß die wilden Thiere sie gefressen haben möchten, ersticht sich deshalb selbst, weil die Jungfrau, eine Königstochter, seinetwegen ihr Leben verloren hatte. Sie aber hatte bis dahin sich nicht getraut, aus dem Winkel hervorzukriechen, aus Furcht, die Löwin möchte den Ort noch nicht verlassen haben. Indeß überwindet die Liebe die Furcht und sie verfügt sich wieder unter die Linden, in der Hoffnung, ihren Geliebten allda zu finden und in freundlichem Gespräche sich mit ihm zu ergötzen. Wie sie ihn aber todt findet und wohl errathen konnte, die herzliche Liebe gegen sie hätte ihn dazu gebracht, da hat sie das Schwert aus seinem Leibe gezogen und sich zum Zeugniß ihrer treuen Gegenliebe auch selbst getödtet und beide sollen dann an jenem Orte begraben worden sein. Der Pförtner des Königs aber, der die Löwin aus ihrem Käfig hatte entschlüpfen lassen, wurde jämmerlich gemartert, etliche Riemen ihm aus der Haut geschnitten und er wie ein Fisch zerkerbet und erbärmlich hingerichtet. Zum unaufhörlichen Andenken ist aber der Brunnen nicht allein stets ausgemauert geblieben, sondern es hat ihn auch Frau Elisabeth, Herzogs Ulrich zu Mecklenburg Gattin, neu ummauern und mit dem fürstlichen Wappen zieren lassen.74

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Sonderbarer Weise ist hier die Fabel von Pyramos und Thisbe nach Pommern verlegt.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 454.
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