795. Der Grafenroder Hof.

[706] (S. Bechstein S. 65 etc.)


In derselben Gegend liegt ein uraltes Gehöfte, der Graroder Hof, von dem folgende Sage geht. Ein junger Grafensohn aus dem Lahngau liebte ein Mädchen von niederer Geburt. Da er von ihr nicht lassen wollte, so verstieß ihn sein Vater und der Sohn ging auf und davon mit seinem Mädchen und Niemand hörte wieder etwas von ihm. Da auf einmal kam das Unglück über seine Familie, erst starb die Gräfin, dann starben ihre Töchter, eine nach der andern, dann kamen die blühenden Söhne daran, bald war von der zahlreichen Familie nur noch ein Stammhalter übrig, und siehe auch dieser siechte dahin und starb. Da wandelte den alten Grafen großer Kummer und Reue an, daß er so hart gegen seinen ältesten Sohn gewesen war, und er sandte überall hin Kundschafter aus, ob ihm denn Niemand Nachricht geben könne, was mit ihm geworden sei. Da nun aber Alles umsonst war, so machte er sich selbst auf seinen Sohn zu suchen und suchte ihn überall am Rheinstrom und in den Flußthälern und benachbarten Gebirgen. So kam er eines Tages schwer ermüdet an ein einsames Winzerhaus und da traf er, als er um Herberge und Nachtlager bat, ein Winzerpaar, einen jungen Mann und eine junge Frau mit ein Paar Kindern, von der Sonne verbrannt und mit von der schweren Arbeit harten und schwieligen Händen. Die junge Frau bot ihm ein Paar Trauben und trockenes Brod in irdener Schüssel dar und der Winzer, den blinkenden Karst auf der Schulter, hieß ihn freundlich willkommen. Als er ihn aber genau ansah, da sah er wohlbekannte Züge, es war sein verstoßener Sohn, der sich auf diesem einsamen Fleckchen Erde eine Heimath gegründet hatte und seine Familie im Schweiße seines Angesichts ernährte. Der alte Graf aber fiel ihm um den Hals und dankte Gott, daß er nun wieder einen Stammhalter hatte. Dieser aber weigerte sich ihm zu folgen, denn sein Weinberg, der ihn genährt hatte, war ihm ans Herz gewachsen. Deshalb ließ er sich auf dem Berge über demselben eine Burg bauen und diese bezog er mit den Seinigen. Das alte Gehöft[706] aber nannte man den Grafenroder, oder kurzweg den Graroder Hof, darum weil ein Graf das Feld dazu ausgerodet hatte. Zum steten Andenken für seine Nachkommen aber an das, was der junge Graf einst gewesen war, nahm derselbe zum Helmkleinod einen bärtigen Mann im schwarzen kurzen Rocke, auf der Schulter eine silberne Rodhacke tragend. In der alten Kirche zu Schierstein am Rhein sind noch Grabmäler einzelner Glieder dieses alten Geschlechtes zu sehen.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 706-707.
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