982. Das Hemd im Dom zu Osnabrück.

[825] Im rechten Seitenschiff des herrlichen Doms zu Osnabrück hängt an der Seite des Altars der h. Maria ein Hemd, welches aus lauter eisernen Ringelchen und Drähten zusammengewebt ist. Diesen wie ein Netz gefertigten Ringelpanzer trug der im Jahre 1233 verstorbene Bruder Rayner, der 22 Jahre lang in einer engen Zelle neben dem großen Eingange des Domes als Eremit lebte, auf der bloßen Haut, darüber aber ein rauhes borstiges Kleid, dessen struppige Haare durch die Oeffnungen dieses eisernen Hemdes hindurchdrangen und seine Haut jämmerlich zerstachen, obenauf aber noch einen gewöhnlichen eisernen Panzer und über diesem noch eine schlechte Tunica von grobem Tuche. Auch alle seine Zehen waren mit eisernen Ringen, um welche Borsten gewickelt waren, besteckt. Von diesem Manne sind unzählige Wunder verübt worden.154 Seine Gebeine sind im Jahre 1465 in eine Oeffnung der Mauer des Doms gesetzt worden, wo man sie noch sehen kann. Von ihm wird aus Osnabrück selbst folgendes Wunder erzählt.

Eines Tages kam Jemand in Osnabrück an den Stadtgraben und sah oben auf dem Wasser ein Kleid schwimmen. Da er selbst glaubte, es sei nur ein Kleid, so rief er einige Leute, welche am Graben wohnten, und machte sie auf das Kleidungsstück aufmerksam. Beim Versuche, das Kleid aus dem Wasser zu ziehen, fand es sich aber, daß es ein ertrunkenes Kind war. Die Mutter des Kindes, welche herbeikam, schrie verzweiflungsvoll und rief Gottes Hilfe und die Fürbitte Bruder Rayners an. Die Nachbarfrauen[825] kamen auch herbei und versuchten die Arme zu trösten und halfen dem Kinde das Todtenhemd anziehen. Allein die Frau ließ nicht nach, die Hilfe des Bruders Rayner anzurufen, und siehe da, plötzlich regte sich gegen die Vesperzeit das Kind, das in seinem Todtenhemdchen dalag, und ward wieder lebendig. Alsbald erscholl der Ruf von diesem Wunder durch die Stadt, und der Domdechant ließ die Mutter nebst vier andern Frauen, die mit ihr im Hause geblieben waren, zu sich kommen und fragte nach den Umständen der Begebenheit. Die Frauen schworen insgesammt, daß das Kind zur Mittagszeit im Wasser gefunden und zur Vesperzeit wieder lebendig geworden sei.

154

Sein Leben ist nach Urkunden beschrieben von Hüdepohl in d. Mittheil. d. Osnabr. V.f. (Gesch. Bd. I. S. 289.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 825-826.
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