1207. Der Drachenstein.

[980] (Nach Wiedemann bei Köster a.a.O. S. 218 u. Krause b. Wolf, Zeitschr. f. Mythol. Bd. II. S. 294.)


Auf dem Wege, der vom Dorfe Donnern (Kirchspiels Beverstedt) nach Wedel führt, erblickt man rechts von der großen Weide ein einzelnes altes Grab, in dessen Nähe ein ansehnlicher Granitblock sich befindet, der kaum aus dem Boden hervorragt und auf dem eine versteinerte Schlange von 11 Fuß Länge zu sehen ist. Diese Schlange zieht sich in 23 Windungen über die obere Fläche des Steins, der 71/2 Fuß ins Gevierte enthält, hin. Es ist bis jetzt jedoch nicht erwiesen, ob man es mit einer wirklichen Versteinerung oder einem Naturspiele oder einem durch Menschenhände aus dem Block gehauenen Bilde zu thun hat. Es knüpft sich indeß an dieses Stück folgende Sage.

Einst kam der Hirt von Donnern, ein beherzter und handfester Mann, der bereits mehrere Kämpfe mit Wölfen siegreich bestanden hatte, bald nachdem er seine Heerde ausgetrieben, mit derselben ganz bestürzt ins Dorf und meldete den Einwohnern, es sei in letzter Nacht ein großes Wunder geschehen, denn oberhalb der Weidenniederung an der Anhöhe in der Nähe des alten Grabes sei ein großer See entstanden, und es rieche da pestilenzialisch nach Schwefel, weshalb er auch das Vieh nach Hause getrieben habe, damit es nicht von dem giftigen Gestank erkranke und verderbe. Das ganze Dorf, sogar Mütter mit ihren Kindern auf den Armen und hochbetagte Greise und Großmütter gingen hin und besahen, was in ihrer Mark sich ereignet hatte, rochen aber nichts mehr von dem Schwefelbrodem. Da nahm eine alte Frau, die wegen ihres hohen Alters und ihrer langen Erfahrung die kluge Frau hieß, das Wort und sprach: »Mir hat meine Großmutter erzählt, daß der Bültensee und der Silbersee früher auch nicht dagewesen, aber durch Erdfälle plötzlich entstanden sind; wir haben also nichts zu befürchten, unser Vieh hat sogar eine Tränke mehr,« wobei sich die Leute beruhigten und heimkehrten. Der Hirt aber sprach bei sich: »Ich habe nicht geträumt, als ich den Gestank roch, ich bin gewiß, es wird sich bald ausweisen, daß es mit dem See nicht ganz richtig ist!« Um das zu erspähen, trieb er am Nachmittage das Vieh auf die Weide, auf einem Wege, der weiter ablag von dem alten Grabe, und schlich nun hinter's Grab, von wo er durch die lange Heide verdeckt, seitwärts auf den See schaute. Zu seinem großen Erstaunen erblickte er aber bald einen ungeheuern Drachen, der im Wasser aus Lust sich tummelte und zuletzt ans Ufer sich im Sonnenscheine hinstreckte. Muße genug hatte der Hirt, seine Länge auf ungefähr 22 Fuß zu schätzen. Gern hätte er mit ihm gekämpft, aber die ungeheure Größe des Drachen war zu unverhältnißmäßig gegen die seine, um einen Strauß voraussichtlich mit Erfolg bestehen zu können. Was er geschaut,[980] erzählte er im Dorfe und den Leuten ward bange, allein die Bangigkeit steigerte sich gar bald zur Angst; als der muthige Hirt am andern Tage sein Vieh in die Nähe des Sees trieb, soffen einige Thiere aus dem See und waren am Abend schon todt. Schnell ging die Kunde davon von Haus zu Haus mit der Aufforderung, sich eilig zu versammeln, um das Nothwendige zu berathen. Man kam überein, weil man den See schwerlich ausschöpfen oder durch einen tiefen Abzugsgraben trocken legen könnte, so wolle man ihn einhegen und dem Vieh unzugänglich machen. In Folge dieses Beschlusses fuhren sie auf Wagen und Karren am andern Morgen Busch- und Pfahlwerk hinaus und unter Anordnung des klügsten Mannes machten sie einen hohen Zaun, den sie überdem von Außen mit Dorngesträuch bespickten. Damit meinten sie gegen die Gefahr und gegen die Unfälle hinreichende Vorkehrung getroffen zu haben; allein das ganze Bollwerk erwies sich ungeachtet seiner Festigkeit als völlig unzulänglich. Kaum gelangte am nächsten Morgen die Heerde in die Nähe des Sees, so rannte sie wie bezaubert im Galopp nach der Umzäunung, bohrte mit ihren Hörnern in das Flechtwerk, und da der große Drache von innen ihnen tüchtig Hilfe leistete, so ward bald eine Bresche gemacht, durch welche das Vieh zum Wasser drang, voll Gier soff und unter Aechzen und Gestöhn einige Stunden darauf verendete. Von solchem harten Verluste getroffen, wandte Donnern sich zu seinem Pastor in Beverstedt und bat um ein öffentliches Gebet, das Drangsal abzuwenden. Aber der Drache wollte nicht weichen, sintemal die Macht der Hölle sich mit ihm vereinigt hatte. Da bestellten sie Gebete in noch sechs andern Kirchen: in Bexhövede, Logstedt, Altluneberg, Brameln, Schiffdorf und Geestendorf und die siebenfachen Gebete fanden schnell Erhörung. Am Montag Morgen sahen einige Männer, die des Weges nach Wedel gingen, daß der See verschwunden war, und als sie das näher besehen und untersuchen wollten, erblickten sie den Granitblock, auf welchem die Schlange zu Stein geworden, und zwar verkleinert zu 11 Fuß Länge, weil der Block nicht größer war, jedoch mit niederhängendem Hals und Kopf zum offenbaren Zeichen, daß sie nie wieder die Giftzunge geifernd züngeln werde, sondern vollständig überwunden sei. Als man vor ungefähr 50 Jahren in der Nähe des alten Grabes einen andern großen Stein ausgrub, der auf Saugsand lagerte, wurde letzterer ungemein nachgiebig befunden: mit der Schaufel stieß man leicht tief hinein, ein längerer Pfahl drang auch ohne Aufenthalt leicht in den Grund. Nun holte man einen Lindelbaum herbei und selbst der traf noch beim Hineinstecken auf keinen festen Untergrund. Da ward nun den Leuten klar, daß sie auf die Stelle gekommen, wo der See versunken war, und aus Angst füllte man schnell das Loch und ebnete den Boden.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 980-981.
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