Der Heilquell im Wasserfall

[193] Du Geist der Ungeduld, mein Foltergeist,

Der mich zur schleun'gen Flucht kopfüber reißt,

Wenn auf die Wahlstatt des Salons zur Schlacht

Die Großmacht Langeweil' ihr Heer gebracht,

Und mich des Wörterschwalles Katarakt

Wie Wassersturz und Strudel wirbelnd packt,

Mit mir zur Felsschlucht komm, unholder Gast,

Sieh hin, dann hebe dich von mir in Hast!

Auch hier ein wasserreicher Katarakt,

Der, niedertosend, mich mit Schwindel packt

Und sinnbetäubend braust und dröhnt und zischt!

Doch unterm Fluthgebraus schleicht unvermischt

Im eh'rnen Rohr ein Heilquell warm und mild,

Uns sichtbar kaum, der Schmerz und Leiden stillt

Der sieche Leiber fromm zu kräft'gen eilt

Und jetzt, ein Seelenarzt, mein Herz geheilt.

Ich ahn' es, traun, im Wortgesprudelstrom

Fließt dort auch manch ein Heilborn einsam fromm,

Manch Wort, das welke Herzen wieder jüngt,

Manch Wort, das müde Seelen frei beschwingt,

Manch Wort heilkräft'gen Geists, liebvoller Huld:

O lehre finden mich's, Geist der Geduld!


Quelle:
Anastasius Grün: Gesammelte Werke, Band 1–4, Band 1, Berlin 1907, S. 193-194.
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Gedichte
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