Die Leiche zu Sankt Just

[258] Aus Sankt Justi Klosterhallen

Tönt ein träges Todtenlied,

Glocken summen von den Thürmen

Für den Mönch, der heut verschied.


Seht den Todten! Wie von welkem Blute

Schlingt ein rother Reif sich um sein Haupt;

Ob einst drauf zur Buß' ein Dornkranz ruhte?

Nein, die Krone lag auf diesem Haupt!


Die Kapuze zieht ein Mönch ihm

Tief jetzt übers Auge zu,

Daß die böse Spur der Krone

Drin verhüllt, verborgen ruh'.


Einst das Zepter hielt sein Arm erhoben;

Rüttelte gleich dran die halbe Welt,

Er hielt fest und höher es nach oben,

Wie ein Fels, der eine Tanne hält.


Diese Arme beugt dem Todten

Jetzt ein Frater zu Sankt Just,

Drückt ein Kreuz darein, und beugt sie,

Ach so leicht! verschränkt zur Brust.
[259]

Wie des Regenbogens Himmelsstiege

Glomm der Tag, der ihm das Licht beschied,

Kön'ge schaukelten da seine Wiege,

Königinnen sangen ihm das Lied.


Doch ein Mönchchor singt das Grablied

Jetzt in alter Melodei,

Wie er singt, ob Grabeslegung

Oder Auferstehung sei.


Seht, die Sonne sinkt, die aus den Reichen

Dieses Todten nie den Ausgang fand;

Dieses Abendroth im Gau der Eichen

Ist ein Morgenroth dem Palmenland.


Und die Glocken leiser klingen:

Schöne Thäler, lebet wohl!

Und die Mönche heiser singen:

Schnöde Welt, o fahre wohl!


Einmal noch durchs Kirchenfenster nieder

Blickt zum Sarg der Sonne mildes Roth,

Was sie hier sieht, dort zu künden wieder:

Wie der Herrscher beider Welten todt!


Hirt und Hirtin doch im Thale,

Wie da Glocke klingt und Lied,

Beten still, entblößten Hauptes,

Für den frommen Mönch, der schied.

Quelle:
Anastasius Grün: Gesammelte Werke, Band 1–4, Band 1, Berlin 1907, S. 258-260.
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