7.

[173] Ein schöner Spätherbstmorgen lachte Benno schon so heiter und sonnig auf seinem Lager an, als wollte der Himmel sagen: Muth! Muth! Nun nicht gewichen! …

Benno frühstückte auf seinem Zimmer mit dem Chorherrn, der bei ihm anklopfte, und erzählte seine gestrigen Erlebnisse …

Zur Fahrt nach dem Schlosse Salem bestellte der freundliche Wirth sofort einen Einspänner, der Punkt neun Uhr vor der Pforte des geistlichen Hauses warten sollte …

Aber wie nun um elf? Wie das Rendezvous im Palatinus? fragte er neckend …

Benno berichtete noch von der Begegnung im Theater und nannte den Namen der Herzogin von Amarillas, über die der Chorherr nichts Näheres wußte …

Sie müssen Ihrer Eroberung ein Lebenszeichen geben, sagte er, sonst kommt sie noch hier am Hause vorgefahren …

Benno wollte im Vorüberfahren am »Palatinus« seine Karte abgeben …[174]

Dann erzählte er von dem Abend bei den Zickeles und schilderte den eigenthümlichen Gegensatz desselben zu der Lage, in der er den Grafen Hugo anzutreffen erwarten durfte …

Auch diesen Beziehungen, die eine Schilderung der Macht der Börse veranlaßten, stand der Chorherr zu fern …

Als Benno andeutete, daß ihm durch alles, was er hier in Wien und Oesterreich sähe und höre, doch ein eigenthümlicher Ton der Trauer mitten durch die Freude hindurch zu gehen schiene, eine Verstimmung, ein Mangel an Selbstvertrauen und doch auch wieder kein Vertrauen zu andern, eine bald excentrische Hingebung, bald ein geheimer Krieg aller gegen alle, kurz eine völlig atomistische Zerbröckelung dieses herrlichen großen Ganzen – da sagte der Chorherr, aufs äußerste erregt und vom gemeinschaftlich genossenen Frühstück aufstehend:

Das eben bricht mir ja das Herz! … – Das erkennen Sie also schon, daß, wenn auch unsere Machthaber nichts lieber wünschen, als die Bestätigung des Rufes, in dem wir als ein Volk von Phäaken stehen, lebend nur dem immerfort sich drehenden Bratspieß, doch dieser Vergnügungstaumel, in den sich unsere Bevölkerung zu stürzen liebt, um so herbere Aschermittwochsstimmungen zurückläßt? … Aus all dieser Lustigkeit hörten Sie schon heraus: Wien ist krank! … Mein junger Freund, ganz Oesterreich ist es … Der Wahrheitstrieb, der tief in diesem Volk begründet ist, findet keine Befriedigung … So verwandelt er sich in Mistrauen, kühle Prüfung, zuweilen leidenschaftlich hervorbrechende Begeisterung[175] und wieder ebenso rasch kommende Ironie seiner selbst … Die einen macht ein solches Wesen schlecht, die andern macht es melancholisch … Was soll einst daraus werden! … Die Masse ist gemüthvoll, ist gerechtigkeitsliebend, aber von einer beängstigenden Unbildung und Maßlosigkeit … Die Vorstädte werden an sich noch wie von den Anschauungen alter Frauen regiert, die an den Straßenecken die Gemüse verkaufen … Ein Schrecken vor Kometen oder vor dem möglicherweise alle Tage wiederkehrenden Türken oder vor dem Staatsbankrott ist die feststehende Stimmung des allgemeinen Volksgeistes … Nun dieser Drang nach Oeffentlichkeit, nach Auszeichnung … Alles was in den Polen, Ungarn, Böhmen, Italienern, namentlich aber in der lebendigsten aller Nationen, in – dem todten Israel lebt, impft sich unserm Volk hier auf … Herrlich, wenn das alles einen würdigen Gegenstand fände … Aber dafür die strengste Censur, die Verfolgung der Meinungen, die Unterdrückung der Lehrfreiheit und – als Ersatz für alles das, was die Oeffentlichkeit entbehren muß, die immer enger und enger sich ziehende jesuitische Ueberstrickung … Kirche und Schule, Wissenschaft und Kunst sollen vom »josephinischen« Geist gereinigt werden … Einsehend, daß es unmöglich, das Licht, das man fürchtet, in Säcken und dunkeln Kutten aufzufangen, arbeitet man jetzt an einem andern System der Bekämpfung des Neuen … Man erbaut Gegengebäude … Man hört die Rathschläge aus dem Al Gesù in Rom … Und dem allem stimmt die öffentlich geheuchelte Loyalität[176] gleichsam zu und doch – im tiefsten Grund – ist's nichts als Lüge – … An der Lüge geht mein herrliches Oesterreich zu Grunde! …

Die magern Hände des Greises zitterten … Sie krümmten sich … Sein Auge war umflort … Er mußte hundert Schritte im Zimmer auf und nieder machen, bis sich sein Blut beruhigte …

Ein Hausdiener brachte einen Brief, den gestern Abend ein fremder Herr bei ihm unten geschrieben, versiegelt und an Herrn von Asselyn adressirt hatte …

Er war von Schnuphase …

Benno mochte nicht lesen …

Als sie beide wieder allein waren, nahm der Chorherr die Gedankenreihen, die ihn so tief erschütterten, wieder auf …

Unsere gegenwärtigen Regenten – sind gegen die Jesuiten … Regenten wollen keine Theilung ihrer Herrschaft … Aber die Strömung ist zu groß … Sie kommt zu stark und von hoch oben … Immer größer wird die Zahl der mittelalterlichen Fanatiker, die mit feierlicher Salbung das ausführen, was Gentz nur vom Standpunkt der bloßen Staatsraison leicht und heiter hinwarf … Damit das germanische Element in Deutschland nicht ganz an Preußen übergeht, muß der Protestantismus in sich selbst verwirrt, verdunkelt und zum Bundsgenossen Roms gemacht werden … Alle Richtungen, die im Denken und Empfinden der Zeit irgendeine Verbindung mit dem Mittelalter zulassen, sollen von jetzt an nur noch allein gepflegt und ausgezeichnet werden … Ich habe das Gefühl einer bangen Zukunft …[177]

Der sich natürlich aufdrängende Gedanke an den großen Staatskanzler bestimmte Benno, den Brief Schnuphase's zu erbrechen …

Er las:

»Hochwohldieselben nicht zu Hause getroffen, zu haben beklage schmerzlichst, bitte inständigst, jedoch Hochdero ergebensten Diener in dieser großen Stadt nicht verlassen zu wollen, sondern, ihm hülfeflehend die Ehre zu geben für übermorgen anberaumter Hoher Audienz bei seiner Durchlauchtigsten Staatskanzler Hochdero ergebensten Diener begleiten zu wollen, da meine Angst vor den vorhabenden Mittheilungen alles, übersteigt was in solcher Lage jemals, empfunden zu haben entsinnen kann. Adresse: Pelikan & Tuckmandl, Currentgasse. Hochdero gehorsamst Schnuphase, Stadtrath. In Eile.«

Benno zerriß den Brief, warf ihn in einen Papierkorb und schwieg von dem Inhalt …

Feierlich zündete der Chorherr eine Kerze an und sagte:

Briefe, die man nicht aufbewahren will, muß man verbrennen …

Eine lange Pause, während der er feierlich die Stückchen Papier verbrannte … Rauchen Sie eine Cigarre! sagte er dann mit weicher Stimme … Sie sind jung! … Und kommen Sie nicht zu spät zurück …

Benno drückte dem Gehenden die Hand … Es war ihm bei dem trefflichen Mann so wohl, als wäre er beim Onkel in der Dechanei …

Auf eine seiner Visitenkarten schrieb er in italienischer[178] Sprache: »– bedauert, für heute verhindert zu sein, persönlich nach dem Befinden Sr. Hoheit zu fragen« …

Es waren diese Worte für den Principe Rucca bestimmt … Buchstaben, die sich von seinem Herzen, von seiner Hand langsam losrangen, wie ein Fürst die Bestätigung eines Todesurtheils schreiben mag …

Dann nahm er die ihm von Nück übergebenen Papiere, schloß sie in ein größeres Portefeuille, nahm einen warmen Oberrock, verließ sein Zimmer und bestieg den kleinen Wagen, der am Hause hielt …

Am Palast des römischen Botschafters fuhr er vorüber, wie vor einem geheimnißvollen Cocon, in den sich eine Raupe gehüllt hat, die ihm zum bunten Schmetterling werden sollte …

Am Palatinus hielt er …

Die Vorhänge an den Fenstern des ersten Stocks hingen noch hernieder … Einen Troß von Menschen sah er wieder im Portal stehen … Wieder den Mohren des Prinzen Rucca …

Benno übergab aus dem Wagen dem Portier seine Karte … Die Hand zuckte. Er erschien sich jener Apollin, an den Olympia als Kind hinaufsprang, um ihn zu zertrümmern … Eine heiße Glut durchloderte ihn, wenn er dachte: Sie erwartet dich um elf Uhr in den Zimmern ihres Verlobten, findet deine Karte, auch die Mutter nimmt diese in die Hand, liest deinen Namen – Ceccone kommt hinzu – Du wirst in Kreise gezogen, wo die Verführung dich umgaukelt, wo jeder Schritt für dein Herz und dein Urtheil zur Fußangel werden kann! … Wirst du in solcher Lage, mit allen[179] aus ihr entspringenden Verbindlichkeiten der Verstellung ausharren können? … Da war es ihm, als riefe es um ihn her: Fliehe! Jetzt! Jetzt! Noch ist es Zeit! …

Das Rößlein schwenkte … Munterer sprang es dahin in eine ruhigere Seitenstraße … In der Nähe eines seltsam gebauten Hauses, dessen Fenster den Schießscharten von Kasematten glichen und die doch einem Franciscanerkloster angehörten, wie der Kutscher erläuterte, lag ein altes Haus, am Portal mit dem Bild eines Heiligen und einer ewigen Lampe … Er fragte nach der Currentgasse … Die lag in einem andern Theil der Stadt … Wie werth war ihm die Erinnerung an die freimüthige, herzige Therese … Sie die Freundin seiner verlorenen Schwester … Gräber! Gräber –! rief es in seinem Innern … Warum öffnest du sie … Fliehe! Fliehe! Noch ist es Zeit! rief es auch hier um ihn her …

Durch ein kleines Thor auf das Glacis gekommen, fuhr er am Kloster der Hospitaliterinnen vorüber, wo er schon die Aebtissin, Schwester Scholastika, die geborene Tüngel-Heide, hätte besuchen müssen … Er widmete ihr einen Sehnsuchtsgedanken an die ferne Armgart …

Immer einsamer und einsamer wurden die Straßen … Zuletzt gab es nur noch alleingelegene Häuser mit Gärten und Feldern, Fabrikgebäude mit hohen und rauchenden Schornsteinen …

Endlich war die Landstraße erreicht und der ganze Vollgenuß gewährt der ungehindert eingeathmeten kräftigenden Herbstluft …[180]

Benno saß im warmen Oberrock bei offenem Verdeck …

Bald bog der Wagen von der Hauptlandstraße ab … Kleine Ortschaften, in denen gerade Markt gehalten wurde, boten den buntesten Anblick … Der Himmel blieb sonnig und dunkelblau; nur an den Rändern des Horizonts, den die sanften Bergeshöhen abgrenzten, schimmerten die bunten Irisfarben des Herbstes, rosa, gelb und violett …

Der Kutscher sah Benno's Wohlgefallen an der schönen Umgebung und rieth ihm zuweilen, zu Fuß einen kürzern Weg durch eine Waldpartie zu nehmen, während er die sich windende Landstraße weiter fuhr … Aber durch die Eichen- und Buchenhaine war vor schon gefallenem Laub nicht hindurchzukommen … Nur die grünen Tannenbestände ließen hier und da den Rath befolgen … An manchen Durchblicken sah Benno weißschimmernde Klöster und Schlösser … Der Blick ringsum öffnete bald diese, bald jene Fernsicht, bald zu einem schroffen Aufgang zu höhern Felsgesteinen, bald zur weiten, vom Pflug wieder neugeackerten, dunkelschwarzen Ebene … Bonaventura – Armgart – Paula schritten immer im Geiste mit ihm …

Endlich wurden die Aussichten begrenzter … Die Hügelreihen zogen sich enger zusammen … Der Kutscher deutete auf den Ausgang eines waldbewachsenen Grundes als den Anfang des zum Schloß Salem gehörenden Parks … Nach einer längern Fahrt zwischen rings sich thürmenden, noch epheu- und moosbewachsenen, von kleinen behenden Cascaden überrieselten Felsen sah man[181] den Weg sich öffnen und an der Abdachung der sich in eine neue große Ebene niedersenkenden Berglehnen eine hellschimmernde, in neuerm Geschmack angelegte Besitzung, der man in der Ferne noch nicht anmerkte, wie sie aus einem alten Renaissanceschloß entstanden war … Alte Thürme waren da im englischen Castellstil neu ergänzt … Balcone, Erker, gewölbte, mit Epheu und wildem Wein umzogene Fenster ließen sich schon aus der Ferne erkennen … Eine Altane bot ohne Zweifel den Blick in die weiteste Ferne bis zur Donau … Offene Galerieen, sonst wol mit Blumen besetzt, zogen sich um die Eckthürme hin …

In nächster Nähe gewann jetzt alles ein gepflegteres Aussehen … Fast unmerklich verlor sich die Straße in einen Park voll kleiner Pavillons, Tempel, Ruhebänken neben stürzenden Wassern; da und dort zeigte sich wieder eine freie, noch smaragdgrüne Waldstelle, auf der man hätte Rehe suchen mögen …

Schon fuhr der kleine Wagen in den gekieselten Gleisen der Parkwege … Die Fußwege nebenan waren sauber geharkt … Sie schlängelten sich terrassenhaft niederwärts bis zum Schlosse, das bei größerer Annäherung sich immer stattlicher entfaltete und nun auch seine Nebengebäude, einen großen geräumigen Hof zeigte, den ein eisernes Gitter und in dessen Mitte ein hohes, mit dem Camphausen'schen Wappen geschmücktes Portal vom Park trennte, während der Fahrweg am Portal vorüber weiter ging und auf einer andern Seite wieder auf die allgemeine Landstraße zurückführte …

So in der Nähe nun zu sein von all dem seither[182] erzählten, vorgestellten, gefürchteten Leben einer fremden hochwichtigen Existenz mit all ihren eigenbedingten Lagen, ihren eigengeschaffenen und wieder für andere maßgebenden Zuständen – gewährte schon an sich eine ergreifende Stimmung … Wie viel mehr noch das Gefühl: Hier weilt dir eine Schwester, die du nie gesehen, vielleicht nie anerkennen wirst! … Hat Terschka wirklich Wort gehalten und geschwiegen? … Unwillkürlich kam ihm die Erinnerung an den Park des Vaters auf Schloß Neuhof … Dann raffte er sich auf – und doch suchte er wieder durch die laublosen Bäume hindurch nur ein abgesondertes Gebäude, das Casino genannt, in welchem, wie er schon in Kocher vom Onkel Dechanten gehört, seine Schwester für sich allein wohnen sollte … Er sagte sich: Du bist ganz wie Bonaventura mit den Bürden seiner Beichten! … Wenn du deine Schwester sähest – würdest du kalt und fremd erscheinen müssen … Auch daß der Graf vielleicht das Opfer eines Betrugs durch eine falsche Urkunde ist, darf kein Gedanke sein, der dich irgendwie hier anwandelt …

Im grasbewachsenen, gepflasterten Schloßhof war es, wie noch zur Mehrung seiner märchenhaft träumerischen Stimmung, menschenleer …

Nur ein einziges Roß sah er, das gesattelt an einen eisernen Candelaber gebunden stand, deren vier eine Rampe schmückten, die die große Auffahrt bildete …

Zu diesem trat durch die Thür eines Seitengebäudes, die zum Stalle zu führen schien, eben in sorgloser Haltung ein Reitknecht, den selbst die Ankunft des Einspänners nicht störte …[183]

Inzwischen war Benno dicht an die Rampe gefahren …

Jetzt sah er erst, der Sattel des Pferdes war ein Damensattel …

Ohne Zweifel war er für seine Schwester bestimmt …

Nun mit dem beklommensten Herzen, jeden Augenblick gewärtig, ihr als Bote ihres Sturzes oder wenigstens ihrer künftigen äußerlichen Verleugnung zu begegnen, sah er dem Reitknecht zu, der den Sattel, fester schnürte und, während der Kutscher schon sein Roß ausschirrte, auf einen Diener deutete, der aus der hohen Glasthür, die von der Rampe zum Schloß führte, mit eilendem Schritt heraustrat …

Auch dieser ging wie der Reitknecht in den »altfränkischen« Dorste'schen Farben – grün und gelb, doch in geschmackvollerer Vertheilung als in Westerhof … Die Halbröcke von mattgelbem Tuch, kleine Verzierungen daran grün … Eine weiße Weste, kurze schwarze Beinkleider und Strümpfe stimmten zu den artigen Manieren des von der Rampe Herabkommenden, der ein Kammerdiener zu sein schien …

Offenbar war der Mann in großer Verlegenheit … Er wußte, daß Benno erwartet wurde und entschuldigte den Grafen, der noch eine Abhaltung hätte … Dann nahm er mit freundlicher Geschäftigkeit das große Portefeuille Benno's entgegen und lud den Gast ein, sich's so lange in einem Zimmer bequem zu machen, das er ihm anweisen wollte …

Alle diese Worte hörte Benno kaum; denn an einem der hohen Fenster des obern Stockes, hinter den blutrothen[184] wilden Weinblättern, die noch nicht ganz von ihrer üppigen Ausbreitung welk herniedergefallen waren, lüftete sich eben eine weiße Gardine und ein Frauenkopf sah heraus … Nur ein Moment war's … Sogleich fiel die Gardine wieder zu …

Es war ein Kopf, ähnlich dem Lucindens … Jugendlicher, von einem Ausdruck der äußersten Angst entstellt – ihm ähnlich …

Er konnte annehmen, der Graf befand sich in einem Tête-à-Tête der größten Aufregung …

Benno, mit dem Gefühl, jedes Auge, das hier auf ihn falle, müßte ihn anstarren um seiner Aehnlichkeit mit Angiolina willen, folgte mit kaum sich aufrecht haltender Betäubung dem Diener, dessen ganzes Benehmen die Furcht ausdrückte, es könnte der junge sehnsüchtig erwartete Rechtsgelehrte der Schallweite der obern Zimmer zu nahe kommen … Von einem runden Eingangsvestibül führte er ihn sogleich in die entgegengesetzte Richtung, ja schloß Fenster und Thüren, die er offen fand, als könnte noch ein anderer Schall hereindringen, als der der Gespräche des Kutschers mit dem Reitknecht und das Unterbringen seines Gefährtes im gräflichen Stall …

Endlich kamen sie in Zimmer, die des Grafen Wohnzimmer selbst schienen und nach dem Garten hinaus gingen … Dieser war nur ein im Charakter etwas veränderter Theil des Parks … Die Fahrstraße umschlängelte das Schloß und lag, kaum hundert Schritte weiter, wiederum dem Blicke offen … Die Zimmer, die sie durchschritten, gingen bis in den alten Bau hinein, einen[185] Thurm, von dem eine noch von welken Blumen umrankte Wendeltreppe in den Garten führte …

Das Zimmer, in dem sich der Diener endlich empfahl, war düster, sonst höchst traulich … Von oben her beschattete es das Dach der großen Altane des ersten Stocks, die man in der Ferne gesehen hatte, auch eine Fülle von Epheu, der von außen fast in das Zimmer hereinwuchs …

Es liegt ein eigener Reiz in dem Betreten eines zum ganzen und vollen Ausleben eines fremden Ichs bestimmten Zimmers … Offenbar hatte der Graf sein Ausbleiben dadurch mildern wollen, daß er Benno sogleich in die Räume führen ließ, die er selbst bewohnte … Der Duft der besten Cigarren kam wie aus eben erst verronnenen blauen Wölkchen … In der Mitte des Zimmers lag auf einem großen runden, zierlich ausgelegten Nußbaumtisch eine Auswahl von bunten türkischen und ungarischen Pfeifen … Cigarrenkisten aus der Havannah waren noch nicht lange geöffnet … Gelber türkischer Taback lag in einer antiken Schale von Metall … Das sich dem mittelalterlichen Geschmack nähernde Zimmer war hochgewölbt … An den Wänden hingen türkische Waffen, Roßschweife sogar, Gemshörner, Alpenhüte, geschmückt mit Gemsbärten … Dunkelbraune Schränke, gothisch geformt, standen theilweise offen und zeigten goldenen und silbernen Militärschmuck, Säbel, Pistolen, Jagdflinten … An den Fenstern waren Glasmalereien angebracht; der Fußboden, am Schreibtisch mit einer großen Tigerdecke belegt, war parkettirt in schönen symmetrischen Figuren … Neben dem modernen[186] und gußeisernen Ofen stand ein vollständiger Ritterharnisch von blankpolirtem Stahl … Auf einer hängenden Etagère blinkten Trinkkannen, Krüge mit eingebrannten Sinnsprüchen, Becher aus Horn mit silbernen Griffen … Der Schreibtisch stand frei, wohlgeordnet und bedeckt mit bunterlei Nippsachen … Federn lagen, noch glänzend von frischgetrockneter Tinte, auf grünem querübergespannten Tuche … Hinter dem Schreibtisch standen in einem dunkeln Winkel zu Fuß eines Porträts, das einen General und ohne Zweifel den durch einen Pferdesturz verunglückten Vater des Grafen darstellte, Hellebarden, Streitkolben, Morgensterne … Ein kleiner Schrank enthielt eine Bibliothek von schöngebundenen Büchern, militärischen und landwirthschaftlichen Inhalts … Eine altmodische Wanduhr mit hörbarem Pendelschlag schien der Pulsschlag des stillen und doch so lebendigen Zimmers zu sein … Hier hatte Terschka gewaltet … Hier Angiolina … Benno's Blick fiel auf eine Console zwischen den beiden Fenstern, wo im Dunkeln eine Alpenzither lag und auf ihr – ein weiblicher Strohhut …

Schon eine Viertelstunde mochte vergangen sein, da kam der Kammerdiener zurück und entschuldigte den Grafen aufs neue … Er wäre zwar im Schlosse, bäte aber den Herrn Baron aufs inständigste, ihm wegen seines Ausbleibens nicht zu zürnen …

Benno sah aus den Zügen des Alten, welche Probe sein Herr zu bestehen hatte … Er las einen Kampf der Liebe und Leidenschaft aus ihnen … Er las aus ihnen Schmerz, Verzweiflung, Drohungen … Er mußte[187] krampfhaft seinen Hut festhalten, um nicht das Zittern seiner Hände zu verrathen …

Der Diener wollte, da Benno eine Erfrischung zu nehmen ablehnte, wenigstens zu seiner Unterhaltung plaudern … Er rückte einen beweglichen Lehnstuhl dem Fenster näher, um Benno die Aussicht zu deuten … Er nannte die Klöster, die Kirchen, die Dörfer, beschrieb den Lauf der Donau, die wie ein Flechtwerk silberner Bänder in dem fast überall neugepflügten dunkelschwarzen Erdreich glänzte … Leise nahm er dabei den Strohhut von der Zither, wollte ihn verstecken, besann sich aber, daß gerade dies Wegnehmen erst recht darauf aufmerksam machte und legte ihn wieder leise auf die Saiten, die nun – wie Geisteraccorde anklangen …


Laß mich weinen, laß mich klagen!

Frage nicht, warum ich's muß!

Ist es nicht der Götter Schluß:

Leben steigt aus Sarkophagen

Seit des Lebens ersten Tagen!


So klang es in einem Liede Bonaventura's, das wehmuthsvoll in Benno nachtönte …

Jetzt horchte der Diener auf … Er schien etwas zu hören, was Benno entging … Besorgt begab er sich in die offenen Vorzimmer und zog die Thüren, die vorher offen gestanden, sorgsam hinter sich zu …

Benno war keine sentimentale Natur … Die Ironie pflegte die Regungen seines Herzens hinwegzutändeln … Hier aber kam ihm nichts mehr vom Humor zu Hülfe … Er fühlte die Rechte des Menschenherzens in dem Leid seiner Schwester – mit Titanenkraft …[188] Armes Kind! … Aber – auch du – arme Paula! …

Benno nahm selbst den Hut von der Zither … Schwarze Sammetbänder glitten über seine zitternden Hände … Auf der Spitze des Huts waren fünf Sternchen von schwarzem Sammet befestigt … Noch duftete der Hut von Angiolinens Haar …

Da hörte er Thüren schlagen …

Er legte den Hut auf die Zither zurück …

Es war ihm, als müßte Angiolina gestürmt kommen und selbst ihren Hut holen …

Ein Gefühl, sie zurückzuhalten und sie, die eben alles verlor, mit dem Schwesternamen zu begrüßen, überwältigte ihn einen Augenblick … Wer denkt sich nicht zuweilen eine That des Heroismus, die, im Urrecht des Genius begründet, alle Schranken der Rücksicht durchbricht, eine That, die die ordnende Weltseele ebenso gut wie jede andere wieder mit dem Hergebrachten würde zu vermitteln wissen! … Schon mußte er sich halten – wie jemand, der zu dicht an einen ungeahnten Abgrund gerathen und statt zu fallen, mit muthigem Entschluß den furchtbaren Sprung lieber selbst wagt …

Da hört er vom Garten her den Hufschlag eines Rosses …

Im regen- und nebelfeuchten Kiese der gleichmäßige Schritt eines Galoppirenden …

Jetzt schwenkte das Roß … Es war das von vorhin im Schloßhofe … Es schwenkte vom alten Gemäuer zur Rechten her und dahin über die sich abdachende Straße quer am Schlosse vorüber …[189]

Darauf eine Reiterin …

Nur Angiolina konnte es sein …

Im dunkelwallenden Kleid saß sie hoch im Sattel …

Ja als sie an der Front der Schloßfenster vorüber mußte, schien sie aus dem Sattel sich zu erheben und sank wieder zurück … Ein Hut mit blauem Schleier schlug hinten über und fiel ihr in den Nacken … Ein schöner Kopf, todtenbleich, mit dunkelschwarzem Haar und lichtverklärt vom durchsichtigen Aether sich abzeichnend …

Das Roß wie im Fluge … Die linke Hand hielt die Zügel, die rechte riß den Hut ganz vom Haupte … Nun ragte die Gestalt schlank und lustig schwebend … Die Hüfte zum Umspannen … Benno suchte das Auge … Das schien sie zuzudrücken … Es war, als wollte sie nichts mehr von dieser Welt erkennen … Immer weiter und weiter schlängelten sich die Windungen des Weges. Das Roß schwenkte … Sie selbst schien wie von einer Schaukel gehoben … Nun verlor sie sich hinter den Büschen … Wieder tauchte sie auf … Ein Bangen ergriff Benno bei dem immer mehr sich verlierenden, in den Büschen bald offenen, bald von ihnen gedeckten Anblick … Wo raste sie so hin? …

Oder – Wie ist das? … Kehrt sie zurück? … Ist sie nicht schon wieder in der Nähe? …

Nein … Neuer Rosseshuf erklingt …

Der Reiter sind aber mehrere …

Auch sie biegen von der Rechten her ums Schloß … Eine Cavalcade ist's von mehreren Herren … Eine Dame unter ihnen … Olympia! … Dieselben[190] Begleiter, wie gestern … Dieselbe kleine Gestalt über und über heute in hellblauem Sammet … Gelbe Seide die Verzierungen … Ein schwarzer Chapeau-Mousquetaire im grellsten Geschmack des Südens mit Goldtressen geschmückt … Phantastischer Carnevalsanblick! … Auch sie jagt dahin und erhebt sich ebenso beim Blick auf das Schloß … Sie erkennt Benno … Das Roß schwenkt … Wild stieben die Reiter um sie her … Eine neue Schwenkung … Jetzt ist Olympia eingeschlossen von ihren Begleitern und auch sie verschwindet …

Benno stand besinnungslos … Er sah die Wirkung – seiner Karte … Ohne Zweifel hatte man seine Wohnung erfragt, seinen Ausflug erfahren, die Richtung erkundschaftet und war ihm gefolgt … Wieder die Statue des Apollin – von einem Panther umkrallt! So wirkte ihm diese Erfahrung … So wild sich geliebt zu sehen – muß ja den Tod versüßen …

Da gingen die Thüren und der Diener kam eilends zu dem Besinnungslosen …

Eben kommen Seine Erlaucht! sagte er … Seine Worte erklangen wie der Ton der Erlösung und glücklichen Hoffnung …

Die Erscheinung, daß Herrschaften von Wien her oder der Umgegend die Durchfahrt durch den Park und an Schloß Salem vorüber benutzten, schien eine häufig vorkommende zu sein … Der Diener achtete nicht darauf …

Schon im Vorzimmer sprach eine hellkräftige Stimme mit jener Fassung, die der Weltbildung geläufig ist, eine Entschuldigung für das lange Ausbleiben …[191]

Graf Hugo trat ein …

Eine schöne männliche Erscheinung … Am Ende der Dreißiger … Hochgewachsen wie seine Mutter Erdmuthe … Das Haar braun, lockig; hie und da dünn an der Stirn und den Schläfen; Lippen und Kinn trugen den Bart desto voller … Die Augen blau … Der erste Eindruck vor den Bewegungen der Höflichkeit und einer nur mühsam verborgenen Erregung unbestimmt und fast zu lebhaft … Der Graf trug ein kurzes, militärisches, weißes Hauscollet mit einer leichten Paspoilirung von Rosaschnüren an der Brust, an den Achseln und Aermeln; lange eng anliegende blaue Beinkleider, unten mit einem Besatz von glänzend lakirtem schwarzem Leder, das gegen Hausstiefel von bunter russischer Lederstickerei grell abstach …

In einer Sprechweise wienerischen Tonfalls entschuldigte er sich, daß ihn Geschäfte abgehalten hätten, sich in eine vollständigere Toilette zu werfen …

Alles das kam, als hätte er eben nur eine Abhaltung gehabt in seinen Ställen oder sonst bei einem Lieblingsgeschäft, das abgewartet werden mußte …

Der Uebergang zum Rauchen, das Nöthigen auf ein dunkel gestelltes, ganz in der Ecke hinter dem Schreibtisch befindliches Kanapee, alles war so leicht, so im Ton der harmlosesten Zuvorkommenheit, daß jeder andere nicht gemerkt haben würde, wie die Art, mit der er in die Kissen zurücksank und wie von seinen Wangen die leichte Röthe der ersten Begrüßung verschwand, doch die äußerste Erschöpfung nach einer aufregenden Scene ausdrückte … Im forschenden Blick auf Benno der[192] völligste Ausdruck der Unbefangenheit über dessen Beziehung zu Angiolina … Und kein Stutzen etwa über irgendeine Aehnlichkeit …

Ungeordnet, abgerissen war alles, was der Graf von Benno's Aufträgen sprach …

Dieser sammelte sich selbst erst durch das Aufschließen seines Portefeuille … Die Eindrücke stürmten zu mächtig auf ihn ein … Die Verlegenheit des Grafen wurde von der seinigen übertroffen …

Herr Graf, begann er allmälig, da ich die Ehre habe – Frau Gräfin Mutter zu kennen und – den Bewohnern von Schloß Westerhof durch lange Jahre nahe stehe, so hab' ich – bei Veranlassung einer Reise nach dem Süden, gern die Aufträge übernommen, die mir Herr – Dominicus Nück gegeben … Ich soll Ihnen – vorlegen, was die Agnaten der Dorstes, die Landschaft, die witoborner Curie zuvor gesichert wünschen müssen, ehe die Vermählung zwischen Ihnen und – Comtesse – Paula zu Stande kommt – worüber Sie wahrscheinlich schon die directe Entscheidung durch Ihre Frau Mutter erhalten haben …

Kein Wort –! sagte Graf Hugo, immer noch wie scherzend … Er versuchte, eine Cigarre anzündend, den Ton der Leichtigkeit beizubehalten … Kein Wort, wiederholte er, das entscheidend wäre – Die Mutter kommt in diesen Tagen zurück – Sie kann schon heute da sein – Da werden wir ja – hören …

Ich zweifle nicht, daß sie die Nachricht von Comtesse Paula's Einwilligung bringen wird – Ich wünsche[193] Ihnen Glück zur Verbindung mit einem der edelsten Wesen der Welt …

Graf Hugo schwieg …

Die Cigarre, die nicht brennen wollte, fortlegend, sagte er:

Sie bringt mir ein großes Opfer …

Es währte eine Weile, bis er, während er die Hand aufstützte, fortfuhr:

Ich bin beschämt davon … Herr von Asselyn, das sind sehr traurige Nothwendigkeiten … Sie werden ja unterrichtet sein – wie – alles das schon seit Jahren –

Mit diesem Worte stockte seine Rede …

Benno sah, wie sich die hochgewölbte, männlichstarke Brust hob und senkte …

Man sollte – sagte der Graf, wieder nach einem möglichst heitern Tone ringend – man sollte eigentlich niemals großmüthig sein … Es war seit Jahrzehnden in unserer Familie die stehende Redensart: Allerdings wenn die Urkunde sich fände –! … Nun ist sie da und alle unsere Bravaden werden beim Wort genommen … Soll ich wieder aufs neue processiren? … Soll ich die Urkunde angreifen? … Soll ich die Verbindlichkeit als eine gefälschte leugnen? … Ihr Staat duldet bei Testamenten keine Religionsverbindlichkeiten … Das weiß ich vollkommen … Ich würde selbst einem Gegner, wie Nück gegenüber, gewinnen … Aber erst nach zehn Jahren … Diese Zustände einer Proceßführung sind nicht mehr zu ertragen …

Als Benno zustimmend schwieg, fuhr der Graf fort:[194]

Die Leute sagen, die Urkunde wäre ein Extrastück Terschka's, befohlen aus Rom … Aufrichtig, ich glaube das nicht … Der arme Schelm hat uns alle betrügen müssen … Das ist wahr … Aber hierin ist er unschuldig … Meine Mutter hat ernste Scenen mit ihm gehabt … Ich will hoffen, daß ihm England den »neuen Menschen« anzieht, der, wie Sie wol wissen, zur Garderobe meiner guten Mutter gehört … Die Arme! … Ihr Eifer, ihre Bemühung rühren mich … Ich will alles thun, was Mama auf ihre alten Tage Beruhigung gewährt …

Benno breitete die Papiere aus und horchte den Worten, die nicht herzlos klangen, horchte um Terschka's willen, dem das Zugeständniß der Verschwiegenheit und einer wirklich geübten Discretion machen zu müssen, ihn fast schmerzte …

Meine Religion ist in diesem Land sehr schwer gestellt, fuhr der Graf in den Papieren blätternd fort, … Ich fürchte, Gräfin Paula wird darin am meisten Anstoß bei mir nehmen … Zumal bei ihrer übergeistigten Richtung … Ich hoffe, Ihre Papiere enthalten nichts von einer Bedingung, mir erst durch eine Conversion die Gemeinschaft auch des Himmels mit ihr sichern zu sollen? …

Benno bestätigte diese Voraussetzung und berichtete, daß die Vorbehalte lediglich auf Besitzfragen gingen …

Der Graf erklärte, alles das, was er da fände, schon mit wiener Advocaten besprochen zu haben und sagte, die Papiere zurücklegend:

Am liebsten fänd' ich in diesen Papieren ein Bild[195] der Gräfin … Wie ist es jetzt mit ihrer Krankheit? … Meine Mutter schreibt nichts darüber … Wahrlich, ich gestehe, ich würde verzweifeln, wenn sich alle diese Dinge hier so fortsetzten, wie in Westerhof …

Man sagt, die Ehe hebt einen solchen Zustand … entgegnete Benno …

Graf Hugo erhob sich, sah zum Fenster hinaus und sprach mit einer Schüchternheit, die Benno an einem Mann, der die Gesetze des Lebens so leicht zu nehmen schien, kaum erwartet hatte:

Die Ehe! Eine Ehe, wie sie eben in unsern Standesverhältnissen so oft geschlossen wird –! Und ich soll dann nach Westerhof kommen … Ich bin es kaum im Stande – … So – fürcht' ich mich …

Benno ehrte diese Ausbrüche des ringenden Ehrgeizes durch Schweigen …

Ich weiß es sehr wohl, fuhr der Graf fort, wir Männer bringen mit unserm Herzen viel zu Stande … Wir können aus unserer Liebe nicht das nur einmal vorhandene Kleinod machen, das eben die Frauen darin sehen wollen …

Nach diesen mit einem leichten Seufzer und einem schärfern Fixiren Benno's begleiteten Worten verlor sich der Blick des Grafen wie innenwärts … Er stand am Fenster, strich sich sein Haar, ergriff mechanisch von der Console ein kleines Fernrohr, wie Offiziere beim Felddienst führen, und sah weithin in die Ebene … Es waren Bewegungen, die der Zerstreuung angehörten …

Benno lenkte zu den Papieren zurück, die er in der Hand behalten hatte …[196]

Plötzlich blickte der Graf starr durch sein Perspectiv, das er zu verlängern anfing …

Einzelheiten dessen, was den Grafen beim Sehen in die Ferne zu interessiren schien, konnte Benno bei der ohne Zweifel großen Entfernung nicht unterscheiden, aber die Gruppen der Reitenden waren es gewiß …

Der Graf erblaßte, reichte Benno das Glas und sagte:

Was sehen Sie, Baron? …

Benno sah zwei Reiterinnen, Angiolina und Olympia, im Wettlauf … Die Offiziere schienen beide umringt zu haben … Nach der selbst bei der großen Entfernung ersichtlichen Schnelle mußte es wie im Sturm dahingehen …

Wer sind denn diese Unverschämten! rief der Graf mit ausbrechendem Zorn, sah sich nach dem Klingelzug um, nahm schnell wieder das Glas zurück und starrte hinaus …

Sie umringen sie ja mit Gewalt! sprach er mit erstickter Stimme … Sie will von ihnen los …

Benno nannte den Namen der Italienerin …

Offiziere der italienischen Garde! … setzte der Graf hinzu … Graf Zerbelloni scheint's … Marchese Melzi …

Zornfunkelnd sprühte des Grafen Auge … Er sah sich um, wie nach Waffen …

Dann bekämpfte er sich und trat vom Fenster zurück … Der Wald unten verbirgt sie … sagte er …

Benno ergriff noch einmal das Glas … Man sah nichts mehr …[197]

Ich kann mich auch geirrt haben … sprach jetzt der Graf erschöpft und glaubte den Beruhigungen, die Benno gab …

Nach einer Weile, in der Benno die wildesten Kämpfe des eigenen Herzens zu bestehen hatte, brach der Graf, anfangs mit nur leiser, allmälig aber lauter, weicher und wohlklingender Stimme, in die Worte aus:

O mein bester Herr von Asselyn! … Was ist das doch für ein Menschenleben! … Terschka's Maxime, wenn der arme Teufel sich zuweilen so ängstlich umsah – ich habe für Terschka Mitleid – war die: Wir können zu jeder Stunde annehmen, daß alles, was wir unser tiefstes Geheimniß glauben, jedermann bekannt ist … Lieben Sie à la Egmont ein Mädchen in der Vorstadt und glauben noch so unbemerkt zu sein, wenn Sie zu ihr gehen – man hat Sie doch gesehen … So will ich auch gar keinen Anstand nehmen Ihnen zu bestätigen, was Sie ohne Zweifel selbst schon beobachteten, daß ich soeben die furchtbarste Scene meines Lebens durchgemacht habe! … Ayez pitié de moi … Vous en dévinez la cause …

Damit sank Graf Hugo auf sein dunkles Kanapee nieder, legte einen Fuß auf die Polsterung und bot ein Bild der tiefsten Erschöpfung … Er schwieg … Die lange Verstellung rächte sich … Seine Kraft war dahin …

Ganz leise flüsterte er allmälig, wie um Benno – zu zerstreuen:

Das da ist mein Vater! … Als ich seinen Tod erfuhr, war ich noch ein Knabe …

Benno bat, sich nicht aufzuregen und sich um ihn[198] keinen Zwang anzuthun … Er schlug vor, daß er sich allein in den Park begeben oder anspannen lassen wollte …

Nein, nein! sagte der Graf … Nur das Geheimthun erschöpft … Nun geht es schon …

Benno sah den ganzen Ausbruch der Liebe zu einem Wesen, das so wunderbar mit seinem eigenen Dasein verbunden war … Ihm verhängte das Schicksal nichts Geringeres als dem Leidenden, der sich wenigstens aussprechen durfte …

Ich versichere Sie, fuhr der Graf fort, ich habe den heiligsten Willen, fest und standhaft zu bleiben … Ich sagte soeben: Die Stunde ist gekommen, die über mein Leben entscheidet! Ich gewinne die Hand einer Heiligen und kenne das Opfer, das mir und dem gemeinschaftlichen Namen gebracht wird – Wir müssen uns trennen … Ich habe dich als halbes Zigeunerkind einst in Zara gefunden … In Zara, wo ich die Pfeifen da kaufte und die Waffen an der Grenze erbeutete von Bosniern … Ja, Baron, in Zara sah ich das kleine Mädchen hoch zu Rosse stehen … Es war allerliebst … Wenn das Kind durch die bunten Reifen, mit und ohne Sattel, gesprungen war und nur Ein Sprung war misglückt, so schüttelte sie den Kopf zu allen Beifallszeichen und rief: Niente! Niente! … Es war eine italienische Truppe …

Benno wandte sein Auge ab, das sich mit Thränen füllte …

Die Unterhaltung in Zara, fuhr der Graf fort, dauerte vierzehn Tage … Die Gesellschaft wollte abreisen[199] und wir Offiziere hatten an dem Kind eine solche Freude, daß ich meinen Kameraden den Vorschlag machte: Kaufen wir's dem Führer ab! Wir wollen's erziehen lassen! … Die Kameraden wollten nicht … Da that ich's für mich allein … Die Gesellschaft war klein; der Director machte schlechte Geschäfte … Er ließ mir Angiolinen für zweihundertfunfzig Gulden …

Oeffnet euch, ihr blauen Vorhänge des Himmels, daß ich meine Hände ausbreite zur Anklage eines Vaters, dessen Unthaten solche Opfer forderten! … So rief es in Benno's Innern …

Er konnte nur leise fragen:

Wem gehörte das Kind? …

Es war wild aufgewachsen, erzählte der Graf … Der Director wird's gestohlen haben, wie diese Leute wol thun … Später haben wir nachgeforscht und kamen bis ins Reich hinaus … Eine italienische Familie, die am kasseler Hof bei der Oper mit der Feuerwerkerei beauftragt war, hatte das Kind bei sich … War's ein Kind dieser Italiener, ich weiß es nicht … Der Krieg hetzte damals alles durcheinander … Angiolina war elf Jahre, als ich sie mitnahm und noch einmal taufen ließ … Ich gab sie einem gewissen Pötzl in Wien zur Erziehung … Nicht wegen seiner – sondern wegen der Frau, die eine gute Haut war … Da ist das Mädchen erzogen worden … Es war eine Pracht, wie sie heranwuchs, sich bildete und keinen gewöhnlichen Geist besaß … Ich ließ ihr die Sprachen und etwas Musik beibringen … Das alles hab' ich im reinsten Sinn gethan …[200]

Benno schwieg, von innigstem Herzen zustimmend …

Nachdem, fuhr der Graf sich selbst die Brust erleichternd fort, kam Terschka in meine Nähe … Ich kann nicht sagen, ist's Zufall, weil das Mädchen damals die liebreizendste Erscheinung wurde, oder eine Folge der Eifersucht, weil Terschka ein Auge auf sie warf –

Der Jesuit! – warf Benno ein …

En vacances! lächelte der Graf … Aber sagen Sie das hier ja zu Niemand anders, als zu mir! Die hiesige Gesellschaft erklärt ihn für einen Abenteurer und Betrüger … Verlassen Sie sich, die Jesuiten hatten ihn abgeschickt, mich katholisch zu machen … Und er fing's sehr richtig an … Wär' ich ihm in allem gefolgt, so säß' ich jetzt bei achtunddreißig Jahren mit beständigem Frieren und versucht' es vielleicht, ob mich nicht ein Ordenshabit erwärmte … Eine Frage im Vertrauen, Herr von Asselyn! … Ich hab' gehört, Ihr Herr Oberprocurator Nück litte – – an einem curiosen Spleen – an der Hängemanie … Ist das wahr? …

Man sagt es … bestätigte Benno …

Ich kannte einen dalmatinischen Schiffskapitän, der mich versicherte, das Hängen wäre der schönste Tod, man wüßte das ganz genau in der Türkei, wo die grüne Schnur zu Hause ist … Und gerade ebenso wußte Terschka den allmäligen Untergang an Leib und Seele zu einem Genuß und einem Genuß ohne Gewissensbisse zu machen … Daß er sich selbst dabei so erhalten hat, machte sein Mangel an Reue … Nichts ruinirt mehr als die Reue, sagte er … Terschka's Satz war: Betrachte[201] jeden Menschen wie ein Glas, an dem man mit einem Instrument den Ton sucht, in dem es wiederklingt! Den Ton forcire dann – bis es bricht! … So wußte er von Jedem seine innerste Natur zu entdecken, nach der setzte er sich mit ihm und kam auf die Art mit allen aus … Bei mir stützte er sich auf Bagatellen – auf die Pferde … In seiner Jugend muß er ein Kunstreiter gewesen sein … Kurz, erst als Terschka sagte: Um Ihrer Frau Mutter willen müssen Sie anfangen, nicht so oft zu den Pötzls zu gehen – ging ich alle Tage hin … Das Ende war, daß ich, als die Pflegemutter starb, Angiolinen vom Alten wegnahm, erst ihr Bruder und dann ihr Geliebter wurde … Das ist manches Jahr her und ich kann wol sagen: Diese Liebe hat mich vom Untergang gerettet! Angiolina wurde mein Schutzgeist … Nicht etwa durch Moral, die hier nicht am Platze ist … Im Gegentheil, sie konnte trotzen, ausschlagen, lügen, sich rächen, wie nur einer, der gereizt wird … Doch es gab nur einen Menschen in der Welt, um den sie das alles that … Der trug einen Helm mit Federn, einen blanken Harnisch, wenn er im Dienst war, und außer Dienst und auf Urlaub, wie jetzt, war er ein Kind, das einen ganzen Tag damit zubringen konnte, für sie Pappkästchen zu machen …

Benno warf in das Leben Blicke, wie er sie noch nicht gethan …

Er wagte, sich auf des Grafen Standpunkt zu stellen und sagte:

Angiolina wird Ihnen – nach der Heirath – unverloren bleiben …[202]

Nein! entgegnete der Graf … Ich habe die Absicht, wenn Comtesse Paula meine Gattin wird, sie in Wahrheit zu verdienen … Glauben Sie mir, das Geschick meines Hauses, meines Namens, diese letzte Täuschung durch die Urkunde, die ich ohne einen furchtbaren Lärm für die Welt nicht abschütteln kann, erschüttern mich … Ich war glücklich mit Angiolina, aber ich gefiel mir nicht in diesem Glück … Sie war ein Weib mit allen Schönheiten und allen Untugenden ihres Geschlechts … Großmüthig und rachsüchtig, offen und falsch, alles in Einem Herzen … Zu ertragen war es nur von dem, der für sie die Welt war und – Zeit dazu hatte … Es mußte aufhören …

Benno gedachte bei Schilderung seiner Schwester der gemeinsamen Vaternatur …

Diese Erfahrung mit Terschka, fuhr der Graf fort, hat mich aufgerüttelt … Ich werde kein Kopfhänger werden und zu sprechen anfangen wie meine Mutter spricht … Aber ich denke so: Hab' ich die Mittel, die mich aus meiner traurigen, schon vom Vater geerbten Finanzlage befreien, so nehm' ich meinen Abschied … Ich werde bauen, pflanzen, für die Erhaltung meines fortblühenden Stammes sorgen … Noch mehr, ich liebe Paula … Sie lächeln? … In der That, ich blicke voll Andacht zu ihr hinüber … Ich bin eifersüchtig – auf das Kloster, das sie wählen wollte, Herr von Asselyn …

Benno stutzte über die Betonung seines Namens. Sie war so scharf, daß sie fast Bonaventura zu gelten schien …

Ich sagte Angiolina: Du erhältst deinen Lebensunterhalt,[203] wie es meinem Adoptivkinde gebührt! Du ziehst zu deiner einzigen Freundin, die dir noch geblieben ist – einer gewissen Therese Kuchelmeister … Diese will zur Bühne gehen; sie wird reisen … Störe meinen Entschluß nicht, der unwiderruflich ist … Von der Stunde an, wo ich einen Boten erwarte, dessen Vorlagen ich unterschreiben muß, räumst du drüben den Pavillon … Ich sagte ihr das täglich, wiederholte es seit drei Tagen stündlich … Ich bat sie um Hülfe gegen mich selbst, bat sie um ihren Haß, ihre Verachtung – Sie warf sich vor mir nieder und umschlang meine Kniee … Tödte mich! rief sie noch im letzten Augenblick vor einer Stunde … Erschieße mich! … Sie reichte mir eine Pistole, die sie heimlich geladen hatte und bei sich trug … Ich entriß sie ihr … Da rollte Ihr Wagen an und es war aus … Ich kann es selbst in der Schilderung nicht zum zweiten mal erleben …

Benno hatte sich dem in den Sopha zurückgesunkenen, die Augen mit der Hand bedeckenden Grafen genähert … Er hatte seine Hand, ob sie gleich selbst zitterte, auf die Schulter des kraftlos Zusammengebrochenen gelegt …

So stand er eine Weile voll stummberedsamen Antheils und rang mit den stürmenden Geistern, die aus ihm selbst hervorzubrechen drohten … Zu Hülfe kam seiner Selbstbeherrschung ein Klopfen des Kammerdieners und die Meldung, daß angerichtet wäre …

Ein Frühstück … auch das muß sein … sagte der Graf und erhob sich …[204]

Benno blickte auf die geöffnete Thür ablehnend …

Nein, nein! … Kommen Sie –! sagte der Graf und führte Benno …

Der Kammerdiener hielt sich in ehrerbietiger Ferne und schien den Grafen, der ein Gemisch von Gutmüthigkeit und Phlegma bot, nicht im mindesten zu stören, denn im Gehen fuhr dieser fort:

Sie ist auf ihrem Pferde, das sie behalten will, nach Wien …

Franz hat sie doch wol, wandte er sich zum Kammerdiener, zur rechten Zeit eingeholt? …

Am Meilenstein schnitt er ihr den Weg ab! sagte der Diener …

Franz war der Reitknecht von vorhin …

Obgleich Benno voranging, bemerkte er doch, daß der Kammerdiener hinter ihnen her den Strohhut ergriff und ihn auf dem Rücken haltend mit sich nahm, jedenfalls um aus dem Zimmer seines Herrn alle Erinnerungen an die abgeschlossene Vergangenheit zu entfernen …

Graf Hugo war in dem Grade der Selbstbeherrschung fähig, daß er trotz seiner Erregung im Gehen an einen zweiten Diener, der sie in einem zwei Zimmer weiter gelegenen kleinen Eßsaal empfing, die Frage richtete:

Was ist das für eine Livree da draußen? …

Diese Frage war mit einem Blick auf den Garten verbunden ...

Erst jetzt bemerkte Benno, daß ein Wagen mit vier Pferden langsam durch den Park fuhr, mit zwei seltsam[205] costümirten Bedienten auf dem Tritt und einem phantastisch gekleideten Mohren neben dem Kutscher …

Eine fremde Herrschaft aus Italien ist es! sagte der Diener … Eine Dame sitzt im Wagen … Sie gehört zu den Reitern, die noch nicht lange vorbeikamen … Ein junger Herr ist bei ihr, der ein schwarzes Pflaster an der Stirn trägt …

Principe Rucca – und – unsre Mutter! … sagte sich Benno und suchte sich zu halten …

Zum Tod erblaßt ergriff er den Sessel und ließ sich dem Grafen gegenüber nieder …

Der Wagen war verschwunden … Nur das Knirschen seiner Räder hörte man noch im feuchten Kiese …

Ist Ihnen nicht wohl? fragte der Graf, jetzt erst bemerkend, daß sein Gast kaum die Serviette zu ergreifen vermochte …

Es ist vorüber … hauchte Benno mit äußerster Anstrengung sich bekämpfend …

Mein Gott! Sie haben so lange gefastet! entgegnete der Graf und rieth erst zu einem Glase Wein …

Benno lehnte alles ab … Er ergriff den Löffel zur Suppe …

In Gegenwart der Diener ließ sich das begonnene Gespräch zwar nicht ganz wie vorhin fortsetzen, aber es blieb ernst … Man sprach über Wien, Oesterreich, über diejenigen Eindrücke, die jedem Fremden zuerst aufstoßen müßten …

Der Graf schilderte die Lage der österreichischen Aristokratie als eben nicht beneidenswerth …

Wir leben, sagte er, nach den Ansprüchen, die unser[206] Stand und die Gesellschaft mit sich bringen; daher in einer fortwährenden Steigerung unserer Bedürfnisse. Unser Besitzthum verringert sich indeß an Werth … Ich kann Ihnen die ersten Herrschaftsbesitzer nennen, denen ein einziges Reh in der Verwaltung ihrer Wälder durchschnittlich fünfhundert Gulden kostet und die von leidlicher Ordnung sprechen, wenn es um zehn Gulden an den Wildprethändler verkauft in der Rechnung steht … Das ist die Incongruenz aller unsrer Lebensbeziehungen – …

Durch Castellungo gehörte auch der Graf Sardinien an … Er forderte Benno auf, den Besuch Castellungo's nicht zu versäumen … Die dabei unvermeidlichen Uebergänge des Gesprächs auf bezügliche Namen und schwebende Interessen, auch auf die Cardinäle Fefelotti und Ceccone, brachten das Gespräch auf Bonaventura … Der Graf blickte nieder und ließ sich erzählen …

Man erwartet ihn ja wol auch hier? … fragte er mit einem Ton, der Benno auffallen durfte …

Gegen Ende des einem Diner vollkommen entsprechenden Mahles bemerkte man das längere Ausbleiben der Diener und eine lebhafte Bewegung in den Zimmern …

Im schnellsten Trabe wurde ein Reiter vom Garten her vernehmbar …

Die Diener blieben zuweilen beim Serviren wie angewurzelt an einer Stelle stehen, warfen sich bedeutsame Blicke zu und schienen sprechen zu wollen …

Wieder hörte man Hufschläge … Alles ringsumher bekam einen Ausdruck von Unruhe und Störung der[207] bisherigen Ordnung, ohne daß man Ausrufe oder auch nur laute Stimmen hörte …

Der Graf fragte endlich die am Büffet flüsternden Diener fast unwillig:

Was gibt es denn? …

Da die Diener nicht antworteten, wiederholte er seine Frage und legte schon erblassend die Serviette nieder … Er schien einer üblen Botschaft gewärtig …

Franz ist zurück … sagte der ältere Diener zögernd …

Der jüngere fügte zagend hinzu:

Es hat – ein Unglück gegeben …

Der Graf erhob sich … Seine Augen zuckten …

Daß es Angiolina war, die ein Unglück getroffen, verstand sich von selbst …

Die Diener sahen zum Fenster hinüber …

Was ist denn?! … Ein Sturz vom Pferde?! … rief der Graf oder wollte dies rufen … Die kurze Frage kam nur noch halb von seinen Lippen …

Benno war in gleichem Entsetzen aufgesprungen …

Die Diener trugen dem Grafen einen Sessel nach; er hatte zur Thür gehen wollen und war zusammengebrochen …

Verwundet doch – nur –? rief Benno, zu seinem Herzen greifend, als bräche es auch ihm im Krampf …

Die Diener stockten und erklärten gleichzeitig und mit demselben Ton:

Lebensgefährlich! …

Sie ist todt – hauchte der Graf … Ich weiß es![208] setzte seine zitternde Stimme hinzu … Seine Hände richteten sich wie die eines Irren gen Himmel …

Die Diener bestritten diese schnelle Annahme … Sie wäre sofort in ihren Pavillon getragen worden – sagten sie … Ein Arzt wäre aus dem nächsten Ort gerufen … Die fremden Herrschaften, die vorüberritten, wollten nach einem Stadtarzt schicken …

Sie sind schuld an ihrem Tod! schrie der Graf und eine zuckende Bewegung ergriff seine Hände und Füße … Franz! rief er … Warum folgte ihr Franz nicht schon von hier? …

Seine zornige Rede erstickte im Schmerz … Es war nichts mehr zu ändern … Seine Anklagen verhallten in den beiden Händen, die er vor die weinenden Augen hielt …

Benno glich dem von Schlangen umringelten Laokoon, der Hülfe rufen will für sich selbst und den eignen Tod nicht achtet in der Angst um seine Lieben …

Sie ritt bergab mit verhängtem Zügel! berichtete der Diener … Allmälig ging das Pferd langsamer … Sie schien es nicht zu achten … Da stand es ganz still … So saß sie im Sattel wie abwesend … Indeß war Franz unten an der Landstraße und wartete am Ausgang des Parks beim Meilenstein … Da kommen die Fremden im vollen Trab herunter … Des Fräuleins Pferd scheut … Sie verliert die Balance, verliert den Steigbügel … Die Reiter, selbst im Niederschießen, können nicht innehalten … Des Fräuleins Pferd bäumt sich, geht durch und gleich querfeldein … Das Fräulein rafft sich auf, kniet mit[209] dem rechten Fuß auf dem Sattel, erhebt sich, steht eine Weile hoch in der Luft und stürzt dann kopfüber … Die Reiter waren oben auf der Landstraße … Franz mußte ins Feld hineinreiten, sprang herunter, ließ sein Pferd laufen, fand das Fräulein blutend am Boden und schon bewußtlos … Die Offiziere, Italiener, kamen näher, nahmen sie dann auf, legten sie querüber auf ein Pferd und führten sie langsam, indem einer der Herren ging, zum Casino …

Graf Hugo war inzwischen schon umgekleidet …

Er hatte sich in einen weißen Mantel geworfen, den die Diener hinten zuschnürten … Seine Hand hatte keine Kraft mehr …

Im Nebenzimmer hatte er die Fußbekleidung gewechselt …

Eine militärische Interimsmütze lag auf dem Kopf lose und haltlos … Die Hand der Diener mußte sie erst auf den braunen Scheitel festdrücken …

Schluchzend stützte er sich auf Benno – auf einen Beistand, der selbst den Tod im Herzen trug … Die Schwester gefunden – so! – und die Mutter arglos in der Nähe –! … Er konnte keinen Gedanken mehr, sich selbst nicht festhalten … Der Graf führte – ihn ...

Den Einspänner Benno's und ein eigenes Gefährt, das schon im Hof gerüstet stand, lehnte der Graf ab …

Ich fürchte mich vor Pferden … sagte er heiser, mit erstickter Stimme … Und – wir – kommen – setzte er bitter lächelnd hinzu – zu – einer Todten – auch zeitig genug …[210]

Damit lenkte er, wie ein zum Tod Verwundeter, vom Vestibüle des Eingangs den schwankenden Schritt zum Garten hin …

Hier öffnete sich links eine lange Allee von schon kahlen, wie zu einer unabsehbaren Laube zusammengewachsenen Platanen …

Durch ein Meer von raschelndem Herbstlaub schritten beide wie geisterhafte Schatten dahin.

Quelle:
Karl Gutzkow: Der Zauberer von Rom. Roman in neun Büchern, Band 7, Leipzig 1860, S. 173-211.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Der Zauberer von Rom
Der Zauberer Von ROM (4); Roman in Neun Buchern
Der Zauberer Von ROM (5); Roman in Neun Buchern
Der Zauberer Von ROM (1); Roman in Neun Buchern
Der Zauberer Von ROM (9)
Der Zauberer Von ROM (3); Roman in Neun Buchern

Buchempfehlung

Christen, Ada

Gedichte. Lieder einer Verlorenen / Aus der Asche / Schatten / Aus der Tiefe

Gedichte. Lieder einer Verlorenen / Aus der Asche / Schatten / Aus der Tiefe

Diese Ausgabe gibt das lyrische Werk der Autorin wieder, die 1868 auf Vermittlung ihres guten Freundes Ferdinand v. Saar ihren ersten Gedichtband »Lieder einer Verlorenen« bei Hoffmann & Campe unterbringen konnte. Über den letzten der vier Bände, »Aus der Tiefe« schrieb Theodor Storm: »Es ist ein sehr ernstes, auch oft bittres Buch; aber es ist kein faselicher Weltschmerz, man fühlt, es steht ein Lebendiges dahinter.«

142 Seiten, 8.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.

442 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon