Die Ameise und die Grille

[191] Es sang die heischre Grille

Die ganze Sommerzeit,

Da sich in aller Stille

Die Ameis' auch erfreut.

Sie häuft der Zellen Fülle

Mit kluger Emsigkeit.


Die Grille singt voll Freude

Um Feld und Busch und Hain,

Und sammelt kein Getreide

Zum nächsten Winter ein.

Als endlich sich die Sonne

Umwölkt dem Schützen naht,

Die Erde keine Wonne,

Und Alles Mangel hat;

Da fühlt sie das Geschicke

Der darbenden Natur,

Und hoffet Trost und Glücke

Von ihrer Freundin nur.

Sie sagt: O leiht mir Weizen,

Geliebte Nachbarin.

Ihr werdet ja nicht geizen,

Ihr wißt, wie arm ich bin.


Die fragt: Zur Zeit der Rosen,

Was hast du da gemacht?

Die hat den Virtuosen

Vielleicht nichts eingebracht.


Ich sang, zwar ungedungen;

Allein, was sollt' ich thun?


Du hast damals gesungen:

Wohlan, so tanze nun!


Quelle:
Friedrich von Hagedorn: Sämmtliche poetische Werke, Leipzig o.J, S. 191.
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