(CLXVIII.)
Die Mütterliche Liebe.

[258] Das graue Haubt ist der Flachs / welches der Spieß / den Rocken durchstochen. Dieses beraubet der nasse Mund und die emsige Hand der Spinnerin / damit Leinenengewand daraus gewürcket werde. Die Gedärmer sind die Fäden / an den Dolchen / verstehe Spindeln / aufgestecket. Aus dem Leinengewand machet man das Papier / zu welchem die Lumpen mit Kalch gepasset werden / hernach werden sie durch die Stampmühle zu dickem Molcken / und endlich zu Papier / darauf der Pflüger / die Feder / von seiner Schwester Bauch dem Dintenfaß geträncket / seine Furchen oder Zeile ziehet. Auß dem alten Papier machet man Scharmützel zu dem Pfeffer und Gewürtze / auß dem neuen mit allerhand Künsten beschriebene Bücher.

2. Hier möchte man nun fragen / wie sich der Flachs und das Papier zu der Mütterlichen Liebe reime / welche mit den Bildniß einer Henne und ihren Glücklein den schicklichen Innhalt dieser Rähtsel hette geben können. Hierauf ist zu wissen / daß der Erzehlung eine Genügen geschicht / wann man nun das Wort auf welches die Rähtsel zielet / mit einbringet / allermassen in dem Gesprächspielen bey Erzehlung der Rähtsel Geschichte vermeldet worden.

3. Vor Jahren ist der grosse Löw zu Florentz auß seiner Behaltniß außgebrochen / und mit grossen brüllen durch die Stadt geloffen / daß jedermann für ihm geflohen / und sich für diesem König der Thiere entsetzet. Wann der Löw brüllet /[258] wer wolte sich nicht fürchten / sagt Salomo. Es begegnete nun diesem Thier ein kleines Kind auf der Gassen / welches ein einiges Söhnlein war eines armen Weibs / die mit ihrem Rocken (von welchem die Rähtsel gesagt) auch entwichen / und das Kind hinter sich gelassen.

4. Als sie nun gesehen / daß der Löw ihres Leibesfrucht angefasset und zerreissen wollen / hat die Mütterliche Hertzensliebe alle Furcht überwunden / und dieses sonst zages Weib so kühn gemacht / daß sie hinzu gelauffen / und dem Löwen ihr Kind auß den Patten gerissen / selbes umarmet / und frisch und gesund nach Hause gebracht. Der Löw ist hernach wieder handfest gemachet und verwahret worden.

5. Zu meiner Zeit hatte der Löwenhüter mit einem Knaben von sieben Jahren Sodomiterey getrieben / unnd das Kind so zugerichtet / daß es Tag und Nacht geschrien. Was thut der Bößwicht? Er nimt den unschuldigen Knaben / und wirfft ihn den Löwen vor / in Hoffnung / daß er solcher Gestalt sein Unrecht verbergen wolle. Die Löwen aber begehren den Knaben nicht anzurühren / und weil inzwischen andre Leute / den Löwen zu sehen kommen / ist diese mörderliche That offenbar worden.

6. Als nun solches für den Hertzog gekommen / und er befragt / ob dergleichen übel mehr beschehe / hat man ihme ein gantzes Regiester solcher Gesellen überreichet / und weil der Bischoff gebetten / daß man sie für Gericht bringen und verbrennen sote / hat der Hertzog das Papier (von welchen gleichfals die Rähtsel Meldung gethan) an dem Liecht verbrennet / und damit den Bischoff wieder abgefertiget.

7. Graff Hunno von Oldenburg war bey Käyser Henrich dem Vierten angegeben / daß er wider selben mit andern eine Bündniß gemachet / und weil er nicht alsobald zu Goßlar auf dem Reichstag erschienen / hat er sollen in Bann gethan werden / welches der Ertzbischoff Albert eiferrigst gesuchet / und von seinem Lande einen guten Theil an sich zu ziehen verhoffet.[259]

8. Als nun besagter Graff das letzte mahl / zu Anhörung der Urtheil / geladen worden / ist er mit seinem Sohne Friederich getrost erschienen / und sich seiner Unschuld getröstet. Es hat aber keine Entschuldigung statt finden wollen / und ist ihm endlich von dem Käyser aufferleget worden / daß er mit einem Löwen streiten / und durch desselben Obsiege sich rechtfertigen solte.

9. Diesen Kampff hat sein Sohn Hertzog Friederich / aus kindlicher Liebe gegen seinem Herrn Vattern /über sich genommen / und GOtt vertrauet / er werde ihn wol aus deß Löwens Rachen erretten / und ihme Gnad und Stärcke verleihen. Mit diesem Heldenmuth tritt er den Löwenkampff an / bereitet aber zuvor einen Mann von Strohe mit einer verborgenen Spitzen / und frischen Eingeweid eines Ochsen zugerichtet / diesen truge der junge Graff für sich in der lincken Hand / und das Schwert in der Rechten.

10. Als nun der außgehungerte Löw das Eingeweid von dem Ochsen gerochen / und solches angefallen / hat der junge Graff Zeit genommen den Löwen zu durchstechen und also demselben obzusiegen; Hierüber hat sich der Käyser höchlich erfreuet / Grafen Friderich zum Ritter geschlagen / ihm einen schönen Ring verehret / und gäntzlich geglaubet / daß dem guten Herren unbillig geschehen / und daß die Auflage aus Verleumdung hergekommen.

11. Zu Erfüllung dieser Erzehlungen wollen wir diese Frage setzen: Ob ein Kind mehr von dem Vatter / oder von der Mutter an sich habe? Für dem Vatter dienen folgende Ursachen / I. Weil das Kind deß Vatters Namen und Wappen führet / welches von Anfang der Welt gewesen scheinet / daß man allezeit den Vatter mit benennet / und ist noch beyden schweden der Gebrauch. II. Weil der Mann / als das Vollkommenste / mehr steuret zu der Empfängniß / als das unvollkommene Weib. III. Ist das Getreid mehr theilhafftig deß Samens / darvon solches erwachsen / als deß Erdreichs / von welchem es ernehret worden. IV. Ohmet der Sohn ins gemein dem Vatter nach / welches die Ursache ist / daß die Edelleute[260] ihre Vätterliche Lehen behalten / weil sie auch derselben Tugend Erben sind. V. Der Wein bleibet Wein / wann gleich ein wenig Wasser darzu gegossen wird: Also wird der vätterliche Samen mit dem Mütterlichen vermischet / ist aber viel schwächer / weniger und geringer.

12. Daß die Mutter mehr Theil bey ihrer Leibesfrucht / ist aus nachgehenden Ursachen zu behaupten: I. Weil weisse Weiber / wegen starcker Einbildung / mit weissen Männern Mohren erzeuget. II. So giebt das Weib ihres Theils nicht nur den Samen / wie der Mann / sondern nehret es so lange Monat / da der Vatter nichts bey thun kan III. Werden viel Kinder nach seines Vattern Tod geboren / welches nach der Mutter Tod nit seyn kan. IV. Machet die Nahrung in Mutterleib / und die Muttermilch das Kind mehr theilhafftig ihrer / als deß Vatters Eigenschafften. V. Ein gesundes Weib kan mit einem Außsätzigen ein reines und gesundes Kind erzeugen; Ein gesunder Mann aber kan mit einem außsätzigen Weibsolches niemals laisten. Den verständigen Leser machen wir zu einem Richter dieser Streitfrage.


Rähtsel.


Ich bin gleich dem Mahen Samen /

trage von Staub meinen Namen /

durch den Blitz und Hagelbrand

bring ich Leid und Freud ins Land.

Mache durch das Donnerknallen

Mauren / Thor und Türne fallen.

Bremn' ich in der Venus-Ritz /

treib ich Martem durch die Hitz /

Nun könt ihr mich leichtlich kennen /

und bey meinem Namen nennen.


Quelle:
Georg Philipp Harsdörffer: Der grosse Schau-Platz Lust- und Lehrreicher Geschichte, 2 Bde, Frankfurt a.M. und Hamburg 1664, S. 258-261.
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