(CLXX.)
Die Wolffszucht.

[266] Der Wolff ist aller Thiere und aller Menschen Feind / der Buchstab W. und das Wörtlein olff / oder ulff / welches so viel ist als Hülffe (daher Rudolff Rathülff / Arnolff Ehrenhülff / Adolff Adelshülffe etc.) setzen zusammen Wolff / daß es als eine Buchstab Rähtsel / oder Wortgrieflein / seine Zähne sind so hitziger Natur / daß sie alles Fleisch / welches sie berühren / gleichsam besengen / verbrennen und außdrucken / daß in denselben Wunden keine Haare wachsen / wie in den Wunden / welche andrer Thiere Zähne eingesetzet (Aristot. probl. 28.) Daß der Wolff sich von dem Raub ernehret / niemand in seinem Leben nutzet / und ein furchtbares Thier / ist jederman bewust. Weil nun folgende Geschicht von den Wölffen handelt / setzen wir diese Rähtsel billich vor.

2. Etliche von Adel in Burgund stelten eine Wolffsjagt in dem Wald Ardenne genannt an / und erlegten auch dieser Unthier / wie solches die Bauren nennen / bey zwölffe / unter andern war eine Wölffin / welcher ein kleines entblöstes Kind nachlieffe / seines Alters bey sieben Jahren. Dieses wurde lebendig gefangen / und hatte das Kind krumme Nägel an Händen und Fůssen / seine Stimme war gleich dem blecken eines Kalbs / und die Haare weißlich und gantz krauß. Diese Wolffszucht muste man in Band und Eisen schlagen / und durch Hunger und Durst die Wort nachsprechen machen / daß das Kind in sieben Monden wol reden gelernt / und wurde Wunderswegen in einem Gehäuß herum geführet und üm Geld gewiesen.

3. Es hat sich aber dieses also begeben. In dem Wintermonat giengen etliche arme Weiber und Kinder in den[266] Wald Holtz zu holen / sich der grossen Kälte zu erwehren / diese aber wurden von Forstern verscheuht / daß sie entlauffen / und benebens ihren Aexen auch ein Kind von 9. Monden hinterlassen: Dieses muste das arme Weib mit ihr nehmen / weil ihr Mann ein Taglöhner / der nur die Sontage nach Hause kame / und sie das Kind niemand sonsten anbefehlen können.

4. Die Furcht machte dieses arme Weib / aller Mütterlicher Liebe vergessen / und ferne davon zu fliehen / mit Hinterlassung ihrer Tochter / wie gesagt. Zu Abends aber kehret sie zurucke an den Ort / und fande noch das Kind / noch die Axt / vermeint also / die Forsten würden vielleicht das Mägdlein zu ihn genommen haben / und laufft in das nächste Dorff / deßwegen nachzufragen / fande auch die Forster in einem Wirtshauß trincken / und weil sie nach ihrem Verlust fragte / wurde sie mit bedraulichen Worten abgewiesen.

5. Dieses Weib klagte aller Orten ihr Unglück / und weil der Mann befürchtet / daß solche Verwarlosung für einen Todschlag angezogen / und sein Weib darüber zu gehöriger Straffe in Verhafft genommen werden möchte / hat er das Land geraumet / und wenig oder nichts verlassen / und so viel mit sich genommen / der Hoffnung sich andrer Orten mit seiner Handarbeit sowol und besser zu ernehren. Man hat auch von diesen Leuten nachgehends nicht vernommen / wo sie hingekommen.

6. Vermuthlich hat die Wölffin für ihre Jungen Speise gesuchet / und dieses verlassne Kind in ihre Hölen getragen massen bekant / daß ein Wolff ein Schaf in seinem Rachen eine halbe Meile unverletzet tragen kan. Die jungen Wölffe aber wolten dieses unschuldige Kind nit anfallen / sondern spielten damit / in dem nun die alte Wölffin entschlaffen / und die jungen von ihr saugten / muß das Kind auch eine Zizen erlangt / und als von ihrer Mutter daran gezogen haben. Von dieser Zeit an hat die alte dem Kind kein Leid gethan / und gleich den andren Jungen genehret.[267]

7. Also genosse das Kind mit zuwachsenden Jahren deß Fleisches von den Thieren so sie eingebracht / die Wölffe aber deß Eingeweids / wie das Kind hernach bekennet / und erzehlet / daß die Wölffe in dem Winter die Erden gefressen / auf welche sie geharnet hatten. Diese Wölffin hatte alle Jahre jungen / und liese den Wolff nicht in ihre Hölen / daß also das Kind durch sonderliche obhalt Gottes ernehret und beschirmet worden.

8. Nach gehabter Nachfrage / wem dieser Knab angehören möchte / wurde offenbar / daß solcher einer armen Frauen / die sich hinweg begeben / und das Kind wurde erkant an den 6. Fingern / welche es an jeder Hand von Mutterleib gebracht / man machte ihn zu einem Hirten Knaben / der Schafe zu hüten / welches er sieben Jahre fleissig gethan / daß derselben keines von den Wölffen gefressen / und deßwegen er auch über das Viehe gesetzet worden.

9. Wann er mit seinem Speichel in der Hand den Schafhund oder Kalb über den Rucken fuhre / so war es für dem Wolff gesichert: Darmit verdiente er viel Geldes / und hatte solche Krafft biß auf das vierzehende Jahr / da sich die Beschaffenheit seines Leibes geändert / unn die Wölffe / so wol von seiner als andern Herden / die Schafe und Gaise weggenommen.

10. Hierüber wurde dieser Jüngling betrübt / und hat sich für einen Soldaten gebrauchen lassen / sich auch in allen Gelegenheiten sehr tapffer gehalten; darbey aber zu rauben und zu plündern / zu fressen und zu sauffen / und alle Laster zu verüben nit unterlassen. Endlich ist er in Flandern erschossen / und von seinen Spießgesellen sehr betrauret worden.

11. Bey Saulien in Burgund hat sich auch begeben / daß zwey Mägdlein der Schaffe gehütet; die ältste war 12. die jüngere 6. Jahre alt. Der Wolff kommet und nimmet ein Schaf von ihrer Herde / und wil es darvon tragen: Diese Mägdlein aber lauffen ihm nach / und jagen ihm den Raub ab / daß der Wolff das Schaff fallen / hingegen aber das[268] sechsjährige Kind angefallen / und dasselbe darvon getragen. Das ältre Mägdlein laufft ihr nach / unnd schreyet üm Hülffe / niemand aber wolte / oder könte sie hören / weil sie zu weit von den Leuten entfernet war.

12. Als sie nun an eine dicke Hecken gekommen / unnd der Wolff durch zu brechen bemühet ist / ergrieffe die kühne Hirtin ihr Messer an dem Gürtel / und stösset es dem Wolff in die Brust / daß er den Raub fallen lässet / und todt zur Erden sincket. Inzwischen kamen etliche Bauersleute darzu / und brachten diese Mägdlein / samt dem erlegten Wolff / mit sich in das Dorff / das jüngere Töchterlein ist aber langsam wiederum geheilet worden / weil wie vorgedacht / die Wolffbisse gleichsam vergifftet sind daß man auch ein Schaf / das dieses Unthier beschädiget / nicht zu essen pfleget.


Rähtsel.


Die Herberg bey dem Mond / gebaut von dreyen Baumen /

macht einen neuen Gast von höhen Werckt traumen /

die ihn betreffen solt; doch war der Weg zu kurtz /

daß er nicht pflantzen kunt die schwartze Hexenwurtz /

Der überschlag von Hanff zerriß / er wurd versteckt /

und bald / weiß nicht von wem / mit frembden Gut bedeckt

Man zahlt das Lösegeld mit schlechten Bettlers Gut /

daß er wurd endlich frey / durch eine schnelle Flut.

Die Sache sonder ihn war ferners nicht zu wagen:

es muste Fuß und Fuß der Hände Sünde tragen.

Wer dieser Rähtsel Sinn allein errahten kan /

den wird / wie ich ihm wünsch / kein Dieb nicht greiffen an.


Quelle:
Georg Philipp Harsdörffer: Der grosse Schau-Platz Lust- und Lehrreicher Geschichte, 2 Bde, Frankfurt a.M. und Hamburg 1664, S. 266-269.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Der Grosse Schauplatz Lust- und Lehrreicher Geschichte
Der Grosse Schauplatz Lust- und Lehrreicher Geschichte, Das erste Hundert. 2 Tle. in 1 Band.

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Fräulein Else

Fräulein Else

Die neunzehnjährige Else erfährt in den Ferien auf dem Rückweg vom Tennisplatz vom Konkurs ihres Vaters und wird von ihrer Mutter gebeten, eine große Summe Geld von einem Geschäftsfreund des Vaters zu leihen. Dieser verlangt als Gegenleistung Ungeheuerliches. Else treibt in einem inneren Monolog einer Verzweiflungstat entgegen.

54 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon