Maria

[111] Sie wandelten zum Feste gen Jerusalem

und kamen in ein Dorf, das heisst Bethania.

Da war ein Weib mit Namen Martha, dieses nahm

den Herren auf und pflegte vielgeschäftig sein.

Und eine junge Schwester hatte sie, die hiess

Maria. – Da der Herr auf seinem Lager nun

am Tische ruhte, setzte sich Maria still

zu seinen Füssen nieder: voller Innigkeit

und Andacht lauschte seinem tiefen Worte sie.


Und wie sie also dasass, sich vergass und nur

an seinen Lippen hangend ihm ins Auge sah,

trat ihre Schwester, die dazwischen immerfort,

für ihren Herrn besorgt, sich hatte abgemüht,

sie trat hinzu und sprach: Herr, fragst du nicht danach,

dass meine Schwester mich allein dir dienen lässt?

Ist es der Weiber Amt und eigne Sorge doch,

zu schaffen emsiglich und treu des Hauses Werk:[112]

und jene hört auf deine Worte wie ein Mann

und denket nicht, was ihr allein geziemen mag.

So sage denn, dass sie mit mir angreife nun

und, gleich wie ich, sich mühe treu in deinem Dienst! –

Doch Jesus sprach zu jener: Martha, Martha! Du

hast viele Sorg und Mühe – aber Eins ist noth.

Maria hat das gute Theil erwählt, das soll

ihr nicht genommen werden. Martha, glaube mir:

auch dir und deinesgleichen soll es werden einst.

Quelle:
Otto Erich Hartleben: Meine Verse. Berlin 1905, S. 111-113.
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