Zweite Szene.

[11] Die Tür tut sich energisch auf.


RAPUNZEL fährt empor und springt auf die Beine. Ich komme ... ich komme gleich ... ist's denn schon fünfe? ...

CHRISTEL ein armes Dorfmädchen, tritt beschneit zur Tür herein. Eine stockbrandfinstere Nacht ... die Windsbraut rast ... der Schnee kommt wie ein Betteschütten ... alles sieht vermummt aus ... der Mensch wird rein zum Schneepopanz ... man läuft wie in dicker Watte ... und jede Spur ist gleich hin ...

RAPUNZEL hat das Feuer im Ofen angeschürt. Danach reißt sie hastig ein paar Oberkleider vom Nagel, die an der Wand hängen. 'runter der Kittel ... 'neingefahren ... 'runter die Jacke ... 'neingefahren ... die Haderlumpen mit Papier um die Füße, daß man sich die Zehen nicht gerade ganz erfriert ... die Kapotte über die Ohren ... das Wickeltuch noch obendrein um Hals und Schultern ... und nun weiter ... einen ordentlichen Brotkeil mit Griefen in die Futtertasche ... aufgepaßt ... die Flasche Kaffee in die Futtertasche ... oh mein Gott ... das ganze bissel Herrlichkeit' nein in die Futtertasche ... zwei Stückel Süßes ... immer 'nein in die Futtertasche ...

CHRISTEL. Die Laterne nimm mit ...[12]

RAPUNZEL. Jaja ... daß wir in der Schlucht nicht ins Bachwasser stürzen ...

CHRISTEL. Mach', daß wir 'nauskommen ... in die tolle Winterluft ... in der Stube riecht's moderig ...

RAPUNZEL. Jaja ... gleich, gleich ... erst noch etwas andres ...


Sie geht ans Fenster, öffnet behutsam, nimmt einen kleinen Napf vom äußeren Fensterbrett auf und blickt hinein.


nämlich ... der Großvater und ich stellen immer ein Äschel mit ein paar Tröpfeln Milch draußen aufs Fensterbrett ... dafür hat der Großvater ein extra Schutzhäusel gebaut, wie fürs Wettermännel ... der Großvater behauptet nämlich, wenn der andere Sohn ... der doch mein Vater war ... etwa tot wäre ... ein Totes könnte heimfliegen aus der größten Ferne ... das schleicht dann um die Hütte ... und suppte in der Winterkälte das Milchäschel ganz aus ... da wüßte man immer gleich, daß ein Fernes tot wäre ... aber es ist wieder nicht ein Tröpfel weg von dem Bissel Milch heute ... da wird sich der Großvater sehr freuen ...

CHRISTEL. Glaubst du denn das Zeug?[13]

RAPUNZEL während sie das Näpfel wieder hinaus stellt und das Fenster schließt. Nun Jesus ... warum denn nicht? ... wenn's der Großvater glaubt ... Sie kommt wieder in die Stube zurück und bleibt an der Großmutter Bett stehen. Vorhin im Schlafe kam's mir so vor, als wenn die Großmutter schon 'rumkröche ... aber die Großmutter schläft noch ... Christel ... Christel ... komm' doch schnell ... wenn wir auch einmal so aussehen werden ... nein, ich könnt' mich halbtot lachen ... ihre Augenlider sind ganz verquollen ... die Wimpern hat sie sich von den Augenrunzeln weggeweint ... die Großmutter seufzt und stöhnt noch im Schlafe ... siehst du ... die hat nie dran geglaubt ... nur immer ich und der Großvater ...

CHRISTEL. Warum ist denn der alte Besenbinder die Nacht nicht zu Hause?

RAPUNZEL indem beide abgehen. Ach ... wo soll ich das alles her wissen ... adi-ada ... Prinzessin ...


Beide ab.


Quelle:
Carl Hauptmann: Die armseligen Besenbinder. Leipzig 1913, S. 11-14.
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