Zweite Szene


[96] Golo, sehr erhitzt, tritt auf.


GOLO.

Luft!


Er bemerkt die beiden.


Was starrt ihr mich so an?

Zwei Beine und zwei Arme bracht ich mit

Herunter, nahm ich deren mehr hinauf?

Geht! Habt ihr nichts zu tun?[96]

CASPAR.

Wir gehen schon.


Ab mit Balthasar.


GOLO.

Luft! Luft! Ich mögte fluchen! Denn mir scheint,

Ich tat doch alles, was ein Mensch vermag.

Im Vorgefühl des Ungeheuersten

Stellt ich mich selbst vors oberste Gericht.

Nicht eines Stoßes von des Höchsten Arm

Bedurft es noch, nur, daß er mich nicht hielt!

Er aber tat ein Wunder – und warum?

Damit in mir der Schurke reifen kann.

Als ich hinauf stieg, wo noch keiner stand,

Da drängten mich die Winde schier zurück,

Die Eule aber sah so trotzig drein,

Als dächte sie: Du kehrst wohl wieder um,

Und schwer an meine Fersen hängt es sich,

Wie eine Welt, die abzuschütteln war.

Ich wollte beten, doch ein Fenster klang,

Und Genoveva winkte mit der Hand,

Und sie, die Tote stören könnt im Schlaf,

Wenn sie vorüber wallt an ihrer Gruft,

Daß durch vermoderndes Gebein aufs neu

Ein Angedenken aller Seligkeit

Hinzittert, die auf Erden möglich ist,

Mich lockte sie vergebens aus dem Tod,

Den ich erwählt, ins helle Sein zurück,

Ich sah sie schwindeln, und beharrte doch.

Zurufen wollt ich ihr: Ich liebe dich!

Doch in der Brust hielt ich es fest, das Wort,

Und jenes Kusses denkend, den ich stahl,

Wie einer, der vor Fieberdurst verglüht,

Von einer Lilie, den Tropfen Tau,

Schwang ich mich zu des Turmes Rand empor

Und seufzt und sprach: Nun ist er gleich bezahlt!

Mein Blick zerrann im Unermeßlichen,

Kaum fühlt ichs noch, daß mich ein Leib umschloß,

Doch leicht und fest, wie man die Erde tritt,

Und ohne Straucheln wandelte mein Fuß,

Und in der Seele klang mirs, wie zum Hohn:[97]

Du stürzest nimmermehr, du bist gefeit!

»Ich will!« So dacht ich, und, zum Sprung bereit,

Hob ich den Fuß, dann aber rief ich: Nein!

Ich tat genug! Wirft Gott mich nicht herab,

So will ich auch nicht selbst mein Henker sein!


Quelle:
Friedrich Hebbel: Werke. Band 1–5, Band 1, München 1963, S. 96-98.
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