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Im Mai

[196] Die Freunde, die ich geküßt und geliebt,

Die haben das Schlimmste an mir verübt.

Mein Herze bricht; doch droben die Sonne,

Lachend begrüßt sie den Monat der Wonne.


Es blüht der Lenz. Im grünen Wald

Der lustige Vogelgesang erschallt,

Und Mädchen und Blumen, sie lächeln jungfräulich –

O schöne Welt, du bist abscheulich!


Da lob ich mir den Orkus fast;

Dort kränkt uns nirgends ein schnöder Kontrast;

Für leidende Herzen ist es viel besser

Dort unten am stygischen Nachtgewässer.


Sein melancholisches Geräusch,

Der Stymphaliden ödes Gekreisch,

Der Furien Singsang, so schrill und grell,

Dazwischen des Zerberus Gebell –


Das paßt verdrießlich zu Unglück und Qual –

Im Schattenreich, dem traurigen Tal,

In Proserpinens verdammten Domänen,

Ist alles im Einklang mit unseren Tränen.


Hier oben aber, wie grausamlich

Sonne und Rosen stechen sie mich!

Mich höhnt der Himmel, der bläulich und mailich –

O schöne Welt, du bist abscheulich!
[196]

Quelle:
Heinrich Heine: Werke und Briefe in zehn Bänden. Band 2, Berlin und Weimar 21972, S. 196-197.
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