Jessica

[543] (Kaufmann von Venedig)


Jessica

Als ich dieses Stück in Drurylane aufführen sah, stand hinter mir, in der Loge, eine schöne blasse Britin, welche am Ende des vierten Aktes heftig weinte und mehrmals ausrief: »The poor man is wronged!« (Dem armen Mann geschieht Unrecht!) Es war ein Gesicht vom edelsten griechischen Schnitt, und die Augen waren groß und schwarz. Ich habe sie nie vergessen können, diese großen und schwarzen Augen, welche um Shylock geweint haben!

Wenn ich aber an jene Tränen denke, so muß ich den »Kaufmann von Venedig« zu den Tragödien rechnen, obgleich der Rahmen des Stückes von den heitersten Masken, Satyrbildern und Amoretten verziert ist und auch der Dichter eigentlich ein Lustspiel geben wollte. Shakespeare hegte vielleicht die Absicht, zur Ergötzung des großen Haufens einen gedrillten Werwolf darzustellen, ein verhaßtes Fabelgeschöpf, das nach Blut lechzt und dabei seine Tochter und seine Dukaten einbüßt und obendrein verspottet wird. Aber der Genius des Dichters, der Weltgeist, der in ihm waltet, steht immer höher als sein Privatwille, und so geschah es, daß er in Shylock, trotz der grellen Fratzenhaftigkeit, die Justifikation einer unglücklichen Sekte aussprach, welche von der Vorsehung, aus geheimnisvollen Gründen, mit dem Haß des niedern und vornehmen Pöbels belastet worden und diesen Haß nicht immer mit Liebe vergelten wollte.

Aber was sag ich? Der Genius des Shakespeare erhebt sich noch über den Kleinhader zweier Glaubensparteien, und sein[543] Drama zeigt uns eigentlich weder Juden noch Christen, sondern Unterdrücker und Unterdrückte und das wahnsinnig schmerzliche Aufjauchzen dieser letztern, wenn sie ihren übermutigen Quälern die zugefügten Kränkungen mit Zinsen zurückzahlen können. Von Religionsverschiedenheit ist in diesem Stücke nicht die geringste Spur, und Shakespeare zeigt in Shylock nur einen Menschen, dem die Natur gebietet, seinen Feind zu hassen, wie er in Antonio und dessen Freunden keineswegs die Jünger jener göttlichen Lehre schildert, die uns befiehlt, unsere Feinde zu lieben. Wenn Shylock dem Manne, der von ihm Geld borgen will, folgende Worte sagt:


Signor Antonio, viel und oftermals

Habt Ihr auf dem Rialto mich geschmäht

Um meine Gelder und um meine Zinsen;

Stets trug ich's mit geduld'gem Achselzucken,

Denn Dulden ist das Erbteil unsers Stamms,

Ihr scheltet mich abtrünnig, einen Bluthund,

Und speit auf meinen jüdischen Rockelor,

Und alles, weil ich nutz, was mir gehört.

Gut denn, nun zeigt sichs, Ihr braucht meine Hülfe:

Ei freilich ja, Ihr kommt zu mir, Ihr sprecht:

»Shylock, wir wünschten Gelder.« So sprecht Ihr,

Der mir den Auswurf auf den Bart geleert

Und mich getreten, wie Ihr von der Schwelle

Den fremden Hund stoßt; Geld ist Eu'r Begehren.

Wie sollt ich sprechen nun? Sollt ich nicht sprechen:

»Hat ein Hund Geld? Ist's möglich, daß ein Spitz

Dreitausend Dukaten leihn kann?« Oder soll ich

Mich bücken und in eines Schuldners Ton,

Demütig wispernd, mit verhaltnem Odem,

So sprechen: »Schöner Herr, am letzten Mittwoch

Spiet Ihr mich an, Ihr tratet mich den Tag;

Ein andermal hießt Ihr mich einen Hund:

Für diese Höflichkeiten will ich Euch

Die und die Gelder leihn.«[544]


Da antwortet Antonio:


Ich könnte leichtlich wieder dich so nennen,

Dich wieder anspein, ja mit Füßen treten. –


Wo steckt da die christliche Liebe! Wahrlich, Shakespeare würde eine Satire auf das Christentum gemacht haben, wenn er es von jenen Personen repräsentieren ließe, die dem Shylock feindlich gegenüberstehen, aber dennoch kaum wert sind, demselben die Schuhriemen zu lösen. Der bankrotte Antonio ist ein weichliches Gemüt ohne Energie, ohne Stärke des Hasses und also auch ohne Stärke der Liebe, ein trübes Wurmherz, dessen Fleisch wirklich zu nichts Besserm taugt, als »Fische damit zu angeln«. Die abgeborgten dreitausend Dukaten stattet er übrigens dem geprellten Juden keineswegs zurück. Auch Bassanio gibt ihm das Geld nicht wieder, und dieser ist ein echter fortune-hunter, nach dem Ausdruck eines englischen Kritikers; er borgt Geld, um sich etwas prächtig herauszustaffieren und eine reiche Heirat, einen fetten Brautschatz zu erbeuten; denn, sagt er zu seinem Freunde:


Euch ist nicht unbekannt, Antonio,

Wie sehr ich meinen Glücksstand hab erschöpft,

Indem ich glänzender mich eingerichtet,

Als meine schwachen Mittel tragen konnten.

Auch jammr' ich jetzt nicht, daß die große Art

Mir untersagt ist; meine Sorg' ist bloß,

Mit Ehren von den Schulden loszukommen,

Worin mein Leben, etwas zu verschwendrisch,

Mich hat verstrickt. – –


Was gar den Lorenzo betrifft, so ist er der Mitschuldige eines der infamsten Hausdiebstahle, und nach dem preußischen Landrecht würde er zu fünfzehn Jahre Zuchthaus verurteilt und gebrandmarkt und an den Pranger gestellt werden; obgleich er nicht bloß für gestohlene Dukaten und Juwelen, sondern auch für Naturschönheiten, Landschaften im Mondlicht und für Musik sehr empfänglich ist. Was die andern edlen[545] Venezianer betrifft, die wir als Gefährten des Antonio auftreten sehen, so scheinen sie ebenfalls das Geld nicht sehr zu hassen, und für ihren armen Freund, wenn er ins Unglück geraten, haben sie nichts als Worte, gemünzte Luft. Unser guter Pietist Franz Horn macht hierüber folgende sehr wäßrige, aber ganz richtige Bemerkung: »Hier ist nun billig die Frage aufzuwerfen: Wie war es möglich, daß es mit Antonios Unglück soweit kam? Ganz Venedig kannte und schätzte ihn, seine guten Bekannten wußten genau um die furchtbare Verschreibung und daß der Jude auch nicht einen Punkt derselben würde auslöschen lassen. Dennoch lassen sie einen Tag nach dem andern verstreichen, bis endlich die drei Monate vorüber sind und mit denselben jede Hoffnung auf Rettung. Es würde jenen guten Freunden, deren der königliche Kaufmann ja ganze Scharen um sich zu haben scheint, doch wohl ziemlich leicht geworden sein, die Summe von dreitausend Dukaten zusammenzubringen, um ein Menschenleben – und welch eines! – zu retten; aber dergleichen ist denn doch immer ein wenig unbequem, und so tun die lieben guten Freunde, eben weil es nur sogenannte Freunde oder, wenn man will, halbe oder dreiviertel Freunde sind – nichts und wieder nichts und gar nichts. Sie bedauern den vortrefflichen Kaufmann, der ihnen früher so schöne Feste veranstaltet hat, ungemein, aber mit gehöriger Bequemlichkeit, schelten, was nur das Herz und die Zunge vermag, auf Shylock, was gleichfalls ohne alle Gefahr geschehen kann, und meinen dann vermutlich alle, ihre Freundschaftspflicht erfüllt zu haben. Sosehr wir Shylock hassen müssen, so würden wir doch selbst ihm nicht verdenken können, wenn er diese Leute ein wenig verachtete, was er denn auch wohl tun mag. Ja, er scheint zuletzt auch den Graziano, den Abwesenheit entschuldiget, mit jenen zu verwechseln und in eine Klasse zu werfen, wenn er die frühere Tatlosigkeit und jetzige Wortfülle mit der schneidenden Antwort abfertigt:


Bis du von meinem Schein das Siegel wegschiltst,

Tust du mit Schrein nur deiner Lunge weh.[546]

Stell deinen Witz her, guter junger Mensch,

Sonst fällt er rettungslos in Trümmern dir.

Ich stehe hier um Recht.«


Oder sollte etwa gar Lanzelot Gobbo als Repräsentant des Christentums gelten? Sonderbar genug, hat sich Shakespeare über letzteres nirgends so bestimmt geäußert wie in einem Gespräche, das dieser Schalk mit seiner Gebieterin führt. Auf Jessicas Äußerung:


Ich werde durch meinen Mann selig werden, er hat mich zu einer Christin gemacht,


antwortet Lanzelot Gobbo:


Wahrhaftig, da ist er sehr zu tadeln. Es gab unser vorher schon Christen genug, grade so viele, als nebeneinander gut bestehen konnten. Dies Christenmachen wird den Preis der Schweine steigern; wenn wir alle Schweinefleischesser werden, so ist in kurzem kein Schnittchen Speck in der Pfanne für Geld mehr zu haben.


Wahrlich, mit Ausnahme Porzias ist Shylock die respektabelste Person im ganzen Stück. Er liebt das Geld, er verschweigt nicht diese Liebe, er schreit sie aus, auf öffentlichem Markte... Aber es gibt etwas, was er dennoch höher schätzt als Geld, nämlich die Genugtuung für sein beleidigtes Herz, die gerechte Wiedervergeltung unsäglicher Schmähungen; und obgleich man ihm die erborgte Summe zehnfach anbietet, er schlägt sie aus, und die dreitausend, die zehnmal dreitausend Dukaten gereuen ihn nicht, wenn er ein Pfund Herzfleisch seines Feindes damit erkaufen kann. »Was willst du mit diesem Fleische?« fragte ihn Salario. Und er antwortet:


Fisch' mit zu angeln. Sättigt es sonst niemanden, so sättigt es doch meine Rache. Er hat mich beschimpft, mir eine halbe Million gehindert, meinen Verlust belacht, meinen Gewinn bespottet, mein Volk geschmäht, meinen Handel gekreuzt, meine Freunde verleitet, meine Feinde[547] gehetzt. Und was hat er für Grund? Ich bin ein Jude. Hat nicht ein Jude Augen? Hat nicht ein Jude Hände, Gliedmaßen, Werkzeuge, Sinne, Neigungen, Leidenschaften? Mit derselben Speise genährt, mit denselben Waffen verletzt, denselben Krankheiten unterworfen, mit denselben Mitteln geheilt, gewärmt und gekältet von ebendem Winter und Sommer, als ein Christ? Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht? Wenn ihr uns kitzelt, lachen wir nicht? Wenn ihr uns vergiftet, sterben wir nicht? Und wenn ihr uns beleidigt, sollen wir uns nicht rächen? Sind wir euch in allen Dingen ähnlich, so wollen wir's euch auch darin gleichtun. Wenn ein Jude einen Christen beleidigt, was ist seine Demut? Rache. Wenn ein Christ einen Juden beleidigt, was muß seine Geduld sein nach christlichem Vorbild? Nu, Rache. Die Bosheit, die ihr mich lehrt, die will ich ausüben, und es muß schlimm hergehn, oder ich will es meinen Meistern zuvortun.


Nein, Shylock liebt zwar das Geld, aber es gibt Dinge, die er noch weit mehr liebt, unter andern auch seine Tochter, »Jessica, mein Kind«. Obgleich er in der höchsten Leidenschaft des Zorns sie verwünscht und tot zu seinen Füßen liegen sehen möchte, mit den Juwelen in den Ohren, mit den Dukaten im Sarg, so liebt er sie doch mehr als alle Dukaten und Juwelen. Aus dem öffentlichen Leben, aus der christlichen Sozietät zurückgedrängt in die enge Umfriedung häuslichen Glückes, blieben ja dem armen Juden nur die Familiengefühle, und diese treten bei ihm hervor mit der rührendsten Innigkeit. Den Türkis, den Ring, den ihm einst seine Gattin, seine Lea, geschenkt, er hätte ihn nicht »für einen Wald von Affen« hingegeben. Wenn in der Gerichtsszene Bassanio folgende Worte zum Antonio spricht:


Ich hab ein Weib zur Ehe, und sie ist

So lieb mir als mein Leben selbst, doch gilt

Sie höher als dein Leben nicht bei mir.

Ich gäbe alles hin, ja opfert' alles,[548]

Das Leben selbst, mein Weib und alle Welt,

Dem Teufel da, um dich nur zu befrein.


Wenn Graziano ebenfalls hinzusetzt:


Ich hab ein Weib, die ich, auf Ehre, liebe;

Doch wünscht ich sie im Himmel, könnt sie Mächte

Dort flehn, den hünd'schen Juden zu erweichen,


dann regt sich in Shylock die Angst ob dem Schicksal seiner Tochter, die unter Menschen, welche ihre Weiber aufopfern könnten für ihre Freunde, sich verheuratet hat, und nicht laut, sondern »beiseite« sagt er zu sich selber:


So sind die Christenmänner: ich hab 'ne Tochter,

Wär irgendwer vom Stamm des Barrabas

Ihr Mann geworden, lieber als ein Christ! –


Diese Stelle, dieses leise Wort, begründet das Verdammungsurteil, welches wir über die schöne Jessica aussprechen müssen. Es war kein liebloser Vater, den sie verließ, den sie beraubte, den sie verriet... Schändlicher Verrat! Sie macht sogar gemeinschaftliche Sache mit den Feinden Shylocks, und wenn diese zu Belmont allerlei Mißreden über ihn führen, schlägt Jessica nicht die Augen nieder, erbleichen nicht die Lippen Jessicas, sondern Jessica spricht von ihrem Vater das Schlimmste... Entsetzlicher Frevel! Sie hat kein Gemüt, sondern abenteuerlichen Sinn. Sie langweilte sich in dem streng verschlossenen »ehrbaren« Hause des bittermütigen Juden, das ihr endlich eine Hölle dünkte. Das leichtfertige Herz ward allzusehr angezogen von den heiteren Tönen der Trommel und der quergehalsten Pfeife. Hat Shakespeare hier eine Jüdin schildern wollen? Wahrlich nein; er schildert nur eine Tochter Evas, einen jener schönen Vögel, die, wenn sie flügge geworden, aus dem väterlichen Neste fortflattern zu den geliebten Männchen. So folgte Desdemona dem Mohren, so Imogen dem Posthumus. Das ist weibliche Sitte. Bei Jessica ist besonders bemerkbar eine gewisse zagende Scham, die sie nicht überwinden kann, wenn sie Knabentracht anlegen soll. Vielleicht in[549] diesem Zuge möchte man jene sonderbare Keuschheit erkennen, die ihrem Stamme eigen ist und den Töchtern desselben einen so wunderbaren Liebreiz verleiht. Die Keuschheit der Juden ist vielleicht die Folge einer Opposition, die sie von jeher gegen jenen orientalischen Sinnen- und Sinnlichkeitsdienst bildeten, der einst bei ihren Nachbaren, den Ägyptern, Phöniziern, Assyrern und Babyloniern, in üppigster Blüte stand und sich, in beständiger Transformation, bis auf heutigen Tag erhalten hat. Die Juden sind ein keusches, enthaltsames, ich möchte fast sagen abstraktes Volk, und in der Sittenreinheit stehen sie am nächsten den germanischen Stämmen. Die Züchtigkeit der Frauen bei Juden und Germanen ist vielleicht von keinem absoluten Werte, aber in ihrer Erscheinung macht sie den lieblichsten, anmutigsten und rührendsten Eindruck. Rührend bis zum Weinen ist es, wenn z.B. nach der Niederlage der Zimbern und Teutonen die Frauen derselben den Marius anflehen, sie nicht seinen Soldaten, sondern den Priesterinnen der Vesta als Sklavinnen zu übergeben.

Es ist in der Tat auffallend, welche innige Wahlverwandtschaft zwischen den beiden Völkern der Sittlichkeit, den Juden und Germanen, herrscht. Diese Wahlverwandtschaft entstand nicht auf historischem Wege, weil etwa die große Familienchronik der Juden, die Bibel, der ganzen germanischen Welt als Erziehungsbuch diente, auch nicht, weil Juden und Germanen von früh an die unerbittlichsten Feinde der Römer und also natürliche Bundesgenossen waren: sie hat einen tiefern Grund, und beide Völker sind sich ursprünglich so ähnlich, daß man das ehemalige Palästina für ein orientalisches Deutschland ansehen könnte, wie man das heutige Deutschland für die Heimat des heiligen Wortes, für den Mutterboden des Prophetentums, für die Burg der reinen Geistheit halten sollte.

Aber nicht bloß Deutschland trägt die Physiognomie Palästinas, sondern auch das übrige Europa erhebt sich zu den Juden. Ich sage erhebt sich, denn die Juden trugen schon im Beginne das moderne Prinzip in sich, welches sich heute erst bei den europäischen Völkern sichtbar entfaltet.[550]

Griechen und Römer hingen begeistert an dem Boden, an dem Vaterlande. Die spätern nordischen Einwanderer in die Römer- und Griechenwelt hingen an der Person ihrer Häuptlinge, und an die Stelle des antiken Patriotismus trat im Mittelalter die Vasallentreue, die Anhänglichkeit an die Fürsten. Die Juden aber, von jeher, hingen nur an dem Gesetz, an dem abstrakten Gedanken, wie unsere neueren kosmopolitischen Republikaner, die weder das Geburtsland noch die Person des Fürsten, sondern die Gesetze als das Höchste achten. Ja, der Kosmopolitismus ist ganz eigentlich dem Boden Judäas entsprossen, und Christus, der, trotz dem Mißmute des früher erwähnten Hamburger Spezereihändlers, ein wirklicher Jude war, hat ganz eigentlich eine Propaganda des Weltbürgertums gestiftet. Was den Republikanismus der Juden betrifft, so erinnere ich mich, im Josephus gelesen zu haben, daß es zu Jerusalem Republikaner gab, die sich den königlich gesinnten Herodianern entgegensetzten, am mutigsten fochten, niemanden den Namen »Herr« gaben und den römischen Absolutismus aufs ingrimmigste haßten; Freiheit und Gleichheit war ihre Religion. Welcher Wahn!

Was ist aber der letzte Grund jenes Hasses, den wir in Europa zwischen den Anhängern der mosaischen Gesetze und der Lehre Christi bis auf heutigen Tag gewahren und wovon uns der Dichter, indem er das Allgemeine im Besondern veranschaulichte, im »Kaufmann von Venedig« ein schauerliches Bild geliefert hat? Ist es der ursprüngliche Bruderhaß, den wir schon gleich nach Erschaffung der Welt, ob der Verschiedenheit des Gottesdienstes, zwischen Kain und Abel entlodern sehen? Oder ist die Religion überhaupt nur Vorwand, und die Menschen hassen sich, um sich zu hassen, wie sie sich lieben, um sich zu lieben? Auf welcher Seite ist die Schuld bei diesem Groll? Ich kann nicht umhin, zur Beantwortung dieser Frage eine Stelle aus einem Privatbriefe mitzuteilen, die auch die Gegner Shylocks justifiziert:

»Ich verdamme nicht den Haß, womit das gemeine Volk die Juden verfolgt; ich verdamme nur die unglückseligen Irrtümer,[551] die jenen Haß erzeugten. Das Volk hat immer recht in der Sache, seinem Hasse wie seiner Liebe liegt immer ein ganz richtiger Instinkt zugrunde, nur weiß es nicht seine Empfindungen richtig zu formulieren, und statt der Sache trifft sein Groll gewöhnlich die Person, den unschuldigen Sündenbock zeitlicher und örtlicher Mißverhältnisse. Das Volk leidet Mangel, es fehlen ihm die Mittel zum Lebensgenuß, und obgleich ihm die Priester der Staatsreligion versichern, ›daß man auf Erden sei, um zu entbehren und trotz Hunger und Durst der Obrigkeit zu gehorchen‹ – so hat doch das Volk eine geheime Sehnsucht nach den Mitteln des Genusses, und es haßt diejenigen, in deren Kisten und Kasten dergleichen aufgespeichert liegt; es haßt die Reichen und ist froh, wenn ihm die Religion erlaubt, sich diesem Hasse mit vollem Gemüte hinzugeben. Das gemeine Volk haßte in den Juden immer nur die Geldbesitzer, es war immer das aufgehäufte Metall, welches die Blitze seines Zornes auf die Juden herabzog. Der jedesweilige Zeitgeist lieh nun immer jenem Hasse seine Parole. Im Mittelalter trug diese Parole die düstre Farbe der katholischen Kirche, und man schlug die Juden tot und plünderte ihre Häuser: ›weil sie Christus gekreuzigt‹ – ganz mit derselben Logik, wie auf St. Domingo einige schwarze Christen, zur Zeit der Massacre, mit einem Bilde des gekreuzigten Heilands herumliefen und fanatisch schrien: ›Les blancs l'ont tué, tuons tous les blancs.‹

Mein Freund, Sie lachen über die armen Neger; ich versichere Sie, die westindischen Pflanzer lachten damals nicht und wurden niedergemetzelt, zur Sühne Christi, wie einige Jahrhunderte früher die europäischen Juden. Aber die schwarzen Christen auf St. Domingo hatten in der Sache ebenfalls recht! die Weißen lebten müßig in der Fülle aller Genüsse, während der Neger im Schweiße seines schwarzen Angesichts für sie arbeiten mußte und zum Lohne nur ein bißchen Reismehl und sehr viele Peitschenhiebe erhielt; die Schwarzen waren das gemeine Volk. –

Wir leben nicht mehr im Mittelalter, auch das gemeine Volk[552] wird aufgeklärter, schlägt die Juden nicht mehr auf einmal tot und beschönigt seinen Haß nicht mehr mit der Religion; unsere Zeit ist nicht mehr so naiv glaubensheiß, der traditionelle Groll kleidet sich in modernen Redensarten, und der Pöbel in den Bierstuben wie in den Deputiertenkammern deklamiert wider die Juden mit merkantilischen, industriellen, wissenschaftlichen oder gar philosophischen Argumenten. Nur abgefeimte Heuchler geben noch heute ihrem Haß eine religiöse Färbung und verfolgen die Juden um Christi willen; die große Menge gesteht offenherzig, daß hier materielle Interessen zugrunde liegen, und sie will den Juden durch alle möglichen Mittel die Ausübung ihrer industriellen Fähigkeiten erschweren. Hier in Frankfurt z.B. dürfen jährlich nur vierundzwanzig Bekenner des mosaischen Glaubens heuraten, damit ihre Population nicht zunimmt und für die christlichen Handelsleute keine allzu starke Konkurrenz erzeugt wird. Hier tritt der wirkliche Grund des Judenhasses mit seinem wahren Gesichte hervor, und dieses Gesicht trägt keine düster fanatische Mönchsmiene, sondern die schlaffen, aufgeklärten Züge eines Krämers, der sich ängstigt, im Handel und Wandel von dem israelitischen Geschäftsgeist überflügelt zu werden.

Aber ist es die Schuld der Juden, daß sich dieser Geschäftsgeist bei ihnen so bedrohlich entwickelt hat? Die Schuld liegt ganz an jenem Wahnsinn, womit man im Mittelalter die Bedeutung der Industrie verkannte, den Handel als etwas Unedles und gar die Geldgeschäfte als etwas Schimpfliches betrachtete und deshalb den einträglichsten Teil solcher Industriezweige, namentlich die Geldgeschäfte, in die Hände der Juden gab; so daß diese, ausgeschlossen von allen anderen Gewerben, notwendigerweise die raffiniertesten Kaufleute und Bankiers werden mußten. Man zwang sie, reich zu werden, und haßte sie dann wegen ihres Reichtums; und obgleich jetzt die Christenheit ihre Vorurteile gegen die Industrie aufgegeben hat und die Christen in Handel und Gewerb' ebenso große Spitzbuben und ebenso reich wie die Juden geworden sind, so ist dennoch an diesen letztern der traditionelle Volkshaß[553] haftengeblieben, das Volk sieht in ihnen noch immer die Repräsentanten des Geldbesitzes und haßt sie. Sehen Sie, in der Weltgeschichte hat jeder recht, sowohl der Hammer als der Amboß.«

Quelle:
Heinrich Heine: Werke und Briefe in zehn Bänden. Band 5, Berlin und Weimar 21972, S. 543-554.
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