Runen

[156] Ich träume mein Leben

Hinab in die Tiefen,

Ich tauch' in die Gründe

Des Schicksals den Blick.

Es glühen und schweben

Die Hieroglyphen –

Wer ganz sie verstünde,

Erführ' sein Geschick.

Wie mag ich sie deuten,

Die zuckenden Zeichen,

Bald leuchtend wie Flamme,

Bald schattenbedeckt?:[156]

»Du willst es erbeuten,

Du sollst es erreichen,

Du bist von dem Stamme,

Den Irrtum nicht schreckt.

Sonst lägest vernichtet

Du längst von Dämonen,

Die frech dich bedrängten

Mit furchtbarer Macht;

Sonst hättest verzichtet

Du droben zu thronen,

Und dich verhängten

Die Schatten der Nacht.

Nun bist du geborgen

Vor schmählichen Schlingen,

Sie liegen zerrissen

Von trotziger Kraft –

Kein zehrendes Sorgen

Soll je dich bezwingen,

Kein zages Gewissen

Dich wieder erschlafft.

Sprich, kannst du's verspüren,

Was leise wir raunen,

Kannst weise du lösen

Die Rätsel der Schrift?:

Dein Blut wird dich führen

Durch Zickzack und Launen,[157]

Bis grade dein Wesen

Sein Königtum trifft.

Denn du bist von jenen,

Die nimmer zu leiten

Von anderen Händen,

Bestimmung und Rat;

Selbsteigenes Sehnen

Muß stark dir bereiten

Und mutig vollenden

Den fährlichen Pfad.

So lasse dich walten

Und walte du deiner,

Mit wachem Besinnen

Dir selber vertraut!

Du sollst dich entfalten

Nur freier und reiner,

Und ganz sie gewinnen,

Die schönste, die flammenumschlungene Braut.«

Quelle:
Karl Henckell: Gesammelte Werke. Band 1: Buch des Lebens, München 1921, S. 156-158.
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