Die gelbe Rose

[189] Spätsommertag. Berlin in klarer Bläue.

Ihr Gleise sauste die Elektrische.

Der Schaffner zog. Gleich kam die Haltestelle.

Ein zartes Fräulein, ganz in Weiß, stand auf,

So fein und lieblich wie die gelbe Rose,

Die locker in dem Schloß des Gürtels hing.[189]

Ein Bremsenruck. Die junge Dame schwankte

Ein wenig hin und her, als sie den Wagen

Eilig verließ. Von der Erschütterung

Glitt unbemerkt der duftige Schmuck zu Boden.

Blieb liegen ... Wer denn achtete darauf?

Das Fräulein winkte mit dem Sonnenschirm

Der Freundin, Gruß und leichtes Händeschütteln –

Und weiter sauste die Elektrische.

Der Kondukteur, ein junger Mensch, dem hart

Des Kampfes Furchen schon die Stirn zerschnitten,

Durchschritt sein Reich und hob die Rose rasch

Vom Fußbrett, kehrte zum Perron zurück,

Sog einen Augenblick den süßen Hauch

Und hielt so freudeheimlich in der Hand

Den lichtdurchschimmert seidenweichen Kelch ...

Nur ein Moment. Dann steckt er sie behutsam

Am Rückengitter seines Platzes fest,

Wo seltsam sie die Nüchternheit des Raumes

Verklärte, nahm die Rolle, zog dem neuen

Fahrgast das folgende Billett heraus,

Beugt sich zurück: »Gestatten Sie«, hängt schnell

Die Oberleitung um – und sausend ging's

In andre Gegend, andre Menschenwelten.

Quelle:
Karl Henckell: Gesammelte Werke. Band 1: Buch des Lebens, München 1921, S. 189-190.
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