Eisgang

[24] Ein leiser Tauwind pfiff wohl über Nacht –

Hörst du, wie fern die starre Decke kracht?

Im Froste war der Welle Trieb verdorrt,

Nun heult ein Wind, das ist das Losungswort.

Den warmen Hauch verspürt die steife Flut,

Laut ächzt und stöhnt, die todesmatt geruht.[24]

Schwer seufzend ringt der Schrei der Not sich los,

Der Bann der lähmenden Gewalt ist groß,

Die Flut will Luft, und wildgequält empört

Sie sich der Fessel, die ihr Atmen stört.

Hörst du das Schnauben dort? Sieh da den Riß!

Schon quillt die Flut aus enger Finsternis;

Ein neuer Spalt, schrill klagend birst das Eis,

Das keinen Halt vor Flut und Winden weiß.

Der See springt auf, allmächtig wogt der Hauch,

Eistänzer ihr, ahnt die Gefahr ihr auch?

Laßt nun das Spiel, das mit Verderben droht,

Und geht ans Werk, und zimmert euch ein Boot!

Ein Boot aus gutem, wohlgefügtem Holz,

Wild schweift die Woge, wenn sie jauchzend schmolz.

Laßt Mast und Segel fest und sicher sein,

Denn jetzo braust ein Frühlingssturm herein

Und wühlt empor die Tiefe, die euch trägt,

Und opfert jeden, der nicht rasch sich regt,

Das Steuer richtend mit der starken Hand

Auf unsrer Zukunft neues Menschenland.

Quelle:
Karl Henckell: Gesammelte Werke. Band 2: Buch des Kampfes, München 1921, S. 24-25.
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