Gebrauch der Gaben

[494] Die Gabe nimmt sich Niemand, sie

Wird ihm von Gott verliehen;

Nur wer sie mißbraucht, dem wird nie

Der Mißgebrauch verziehen;

Wer sie nicht brauchet ganz und recht,

Ist ein verworfner, böser Knecht.


Herr, lehre mich Zufriedenheit

Durch rechten Brauch der Gabe!

Weit über meine Dankbarkeit

Reicht, was ich von Dir habe.[494]

Hätt' ich gethan auch noch so viel,

Wie ferne bin ich noch vom Ziel!


Wo irgend eine Thräne fließt,

Die ich wol trocknen könnte,

Wo irgend sich ein Gram ergießt,

Der mir Zutrauen gönnte,

Und ich nicht, was ich soll, gethan:

O Herr, das Nichtthun klagt mich an!


Wo Mängel ich und Irrthum sah

(Wie viele sind hienieden!),

Und mein Gewissen trat mir nah:

»Die Pflicht ist Dir beschieden;

Zu helfen hier ist süße Müh!«

Wie oft, Herr, unterließ ich sie!


Und doch ist Menschenseligkeit

Nur eine, daß ich wollte

Erfüllen, was die Pflicht gebeut

Und treu ich leisten sollte.

Was Niemand als ich konnte thun,

Zu thun, heißt in der Pflicht beruhn.


Erbarmen, Herr, und Liebe hebt

Uns über alles Streben;

In guter Menschen Herzen lebt

Sich wol das schönste Leben;

Für Andre wirken, ist uns Ruhm

Und Trost und Evangelium.


Und ach, wie viel verstrichen schon

Mir Tag' und Jahr' und Kräfte!

Und ist verhallt des Lebens Ton,

Vertrocknet seine Säfte:

Wer täglich seinen Tag verlor,

Ist bis zum letzten Tag ein Thor.


Herr, hilf mir, daß ich werde bald,

Was je ich werden sollte,

Und eh die letzte Stunde schallt,

Daß ich es ernstlich wollte!

Im Tod und Leben ist uns wohl,

Wenn man das ist, was man sein soll.


Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 494-495.
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