21.

[232] Ehren, Glück und Macht und Güter,

Aller Ruhm und Pracht der Erde,

Eine leichte Wasserblase[232]

Seid ihr, auf dem Lüftchen schwebend,

Einen kurzen Augenblick.


Don Fernando, er, der Große

– Und mit Recht so zubenamt –,

Spaniens Monarch und Kaiser,

Liegend auf dem Todesbette,

Seine letzte Stund erwartend,

Denkt er nur der Ewigkeit.


Ausgeteilet hatt er alle

Reich und Güter seinen Söhnen.

Welche Stimme schallt auf einmal

In den traurigen Gewölben

Des Palastes? Der Infantin

Doña Uraca Stimme ruft.


Weinend tritt sie vor den König,

Traurend tief im Trauerschleier,

Nahet sich dem Bett des Vaters,

Fällt aufs Knie vor seinem Bette;

Die verehrte Hand ihm küssend,

Flehet sie ihn also an:


»O mein Vater, unter allen

Göttlich-menschlichen Gesetzen

Nennet mir, was Euch verbindet,

Eure Töchter für die Söhne

Zu enterben! Ausgeteilet

Habt Ihr Eure Reich und Länder

Meinen Brüdern und vergaßet,

Vater, und vergaßet mich.


Also bin ich Eure Tochter

Nicht, Señor; denn wenn ichs wäre,

Wär ich auch nur Euer Bastard,[233]

Hätte, meiner zu gedenken,

Euch erinnert die Natur.


Hab ich, königlicher Vater,

Diese Schmach um Euch verdienet,

Nun, so nennet meine Schuld!

Nennet Ihr sie nicht, was werden

Fremde Völker von Euch sagen,

Sagen alle edle Männer,

Wenn sie von dem Unrecht hören,

Das Ihr, stets gerechter König,

Einer Unbescholtnen tut?


Männer, in die Welt eintretend,

Bringen, Güter zu erwerben,

Kräfte sich und Ansehn mit;

Was sie sich erwerben könnten,

Müßigen zu hinterlassen,

Hieße das nicht, edler Vater,

Seine Söhn erniedrigen?

Aber sagt: was kann die Tochter,

Was kann sich ein Weib erwerben?

Hingeworfen auf die Erde,

Hat sie nichts als des Gehorsams,

Als des Dienens niedern Lohn.


Wenn Ihr mich enterbet, Vater,

Ohne Land und ohne Boden

Muß mich in die Fremde flüchten,

Muß – verzeiht ein hartes Wort mir!

Eure Härte zu verbergen,

Muß die Tochter Euch verleugnen,

Weil Ihr sie verleugnetet.


Wohl, so geh ich dann als Pilgrim

In die Welt. In meinen Adern[234]

Wallet königliches Blut;

Dessen fürcht ich zu vergessen,

Weil mein Vater es vergaß.«


Also sprach mit lautem Weinen

Die Infantin Doña Uraca.

Als sie ausgeredet hatte,

Wartete sie auf die Antwort

Ihres Vaters, der im Sterben

War, des Königs letztes Wort.

Quelle:
Herders Werke in fünf Bänden, Band 1, Weimar 1963, S. 232-235.
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