Wiegenlied

[394] So schaukelt die alte

Weltenamme, die Zeit,

Den Menschen, ihr großes Kind,

Auf und ab

In der Wiege von Tag und Nacht

Und summt und singt ihm

Bald muntre Liedchen,

Daß es lachend die Hände

Ausstreckt und bittet:

Mehr! noch mehr! –

Bald wehvolle Laute

Trauriger Märchen,

Bis es geängstet

Zum Weinen den Mund verzieht

Und fleht: Halt ein,

Garstige Alte!

Zu weh tut dein Gesang

Vom ewigen Werden und Welken

Uns armen Kindern,

Die immer wir fortblühn möchten

Und der Gespielen uns freun. –

Und siehe, die Alte

Erbarmt sich wieder,

Schaukelt melodisch

Die Wiege von Tag und Nacht,

Singt leis' und leiser,[394]

Dem wimmernden Kleinen

Einzulullen das bange Gehirnchen,

Bis er ruhiger atmet

Und noch mit Tränen

An Wimpern und Wangen

Schmerzvergessen entschlummert

Und friedlich lächelt im Schlaf.

Quelle:
Paul Heyse: Gesammelte Werke, 3 Reihen in 15 Bänden, Reihe 1, Band 5, Stuttgart 1924, S. 394-395.
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