Nachtgesicht

[435] 11. Mai


Schwül war gestern die Nacht. Herauf vom Süden

Wetterleuchtet' es stark, und wie der Atem

Eines Stöhnenden fuhr in schweren Stößen

Durch den Garten der Föhn. Aus kurzem Schlummer

Schreckt' ich auf, und ein Weilchen lag und sann ich,

Dann vom Bett mich erhebend und notdürftig

Mich bekleidend, hinaus zur Türe trat ich

Meines hohen Balkons.[435]

Da strömt' entgegen

Mir die Feuchte der Nacht und vom Spaliere

Süßes Rosengedüft, indessen drüben

In der Ferne die lange Garda-Insel

Jetzt aufleuchtet, ein weiß Gespenst, im Zucken

Grell elektrischen Scheins und jetzt in Nacht sinkt.


Drunten wogte die Seeflut, hochaufspritzend

Weit herein in den Garten, daß die Palmen

Zitternd standen, besprüht vom Schaum der Wellen.

Und mich lüstet' es auch nach solchem Staubbad;

Nur die Schläfer im Haus zu wecken bangt' ich,

Noch so leise die Trepp' hinunterschleichend.

Doch da lehnt ja an des Balkones Brustwehr,

Die der Gärtner vergaß, die Sprossenstange,

Die zur Leiter ihm dient, aus höchstem Wipfel

Die Oliven zu pflücken. Flugs hinunter

Klettr' ich Sprosse für Sprosse, bis eratmend

Ich den Boden erreicht. Im Stillen freilich

War's nicht ganz mir geheuer. Denn wohl würde

Meine Liebste mich schelten, säh' sie hier mich

Leichtbekleidet bei Nacht herumspazieren.

Doch nun ist es geschehn, und fröhlich wandl' ich

An der Brüstung dahin, gekühlt vom feinen

Hauch der brandenden Flut. O weiche Feuchte!

Zauber südlicher Nacht! Und weit mich beugend

Übers Mäuerchen, blick' ich in die Tiefe,

Wo es brauset und rauscht.

Da lenkt auf einmal

Mir zur Rechten den Blick ein heller Lichtschein,

Nichts Elektrisches. Ruhig kommt's geschwommen

Von Gardone daher, und jetzt erkenn' ich –

Corpo della Madonna! – eine blanke,

Schlanke Weibergestalt! – vielleicht die schöne

Russin aus dem Hotel, die Lust verspürte,

Grad um Mitternacht noch ein Bad zu nehmen?

Solchem emanzipierten Überweibe

Säh's wohl ähnlich. Und jetzt – es gleitet näher,

Hoch das Haupt aus der Flut gereckt, die Fülle

Schwarzer Haare – doch nein, sie schimmern grünlich,[436]

Und am Rücken, behaglich hingebettet –

Ist's denn möglich? ein Kind! ein nacktes Bübchen,

Das so sicher hier ruht wie in der Wiege,

Leicht ein Ärmchen geschlungen um den weißen

Hals der Mutter!

Im ersten Schreck entfährt ein

Ruf mir. Aber die Schwimmerin, im mindsten

Nicht verlegen ob ihres mangelhaften

Badeanzugs, hinauf zu mir mit Grinsen

Fletscht sie lachend die spitzen weißen Zähne,

Und nun seh' ich es deutlich: statt der Füße

Regt sie rosige Flossen, auch das Knäbchen

Ist kein richtiges Menschenkind – die Beiden,

Die mir drunten genaht, sind Seegeschöpfe,

Doch leibhaftige, da für Fabelwesen

Sie mir immer gegolten!

Sacht indessen

Rudert weiter das Weib, am Wassertreppchen

Taucht sie auf, und den Kleinen niedersetzend

Auf die unterste Stufe, schießt alsbald sie

In die Tiefe zurück und gleich nach oben

Kehrt sie wieder, in der erhobnen Rechten

Einen zappelnden Fisch. Den auseinander

Bricht sie, ihrem begier'gen Kind die Hälfte

Reichend, das mit den Zähnchen frisch hineinbeißt,

Und so halten mit lautem Schmatzen Beide

Ihren nächtlichen Schmaus.

Da horch! Zur Linken

Rauscht's heran, noch im Wellenschaum verborgen.

Plötzlich fährt aus dem Gischt empor ein strupp'ges

Männerhaupt, und mit wildem Lachen reckt es

Zwischen Mutter und Kind sich in die Höhe,

Patscht mit schuppiger Hand des Knäbchens Rücken

Und entreißt ihm den Fisch. Doch grimmig fauchend

Zieht die Mutter es an sich, stirnrunzelnd,

Und will flüchten mit ihm. Es scheint, sie hat wohl

Grund dem Gatten zu grollen, der vielleicht sich

Einer sträflichen Liebschaft schuldig machte

Mit der Nixe von San Vigilio oder

Von Malcesine, und sie sagt' entrüstet[437]

Von dem Falschen sich los, der nun des Knaben

Sich bemächtigen will. (Das Seegesindel

Ist natürlich durchaus nicht tugendhafter,

Als das Menschengeschlecht.)

Ein Weilchen zerren

Mann und Weib an dem Bübchen, das sich kläglich

Winselnd sträubt. Doch auf einmal wird der Vater

Meister über das Kind, und durch die Wellen

Trägt er's rauschend davon, im nach mit rauhem

Möwenkreischen das Weib und jäh entschwindet

Meinem Blick der Roman der Seefamilie.


Kühler wehte der Wind. Ein leiser Schauer

Lief mir über den Leib, und nach dem Hause

Strebt' ich eilig zurück, erklomm die Leiter

(Wie mir's glückte, mir selber schien's ein Wunder)

Und rasch wieder ins Bett.

Am andern Morgen,

Als beim Frühstück ich beichtete meiner lieben

Frau, was gestern im Garten leichtbekleidet

Ich erlebt, und der wohlverdienten Schelte

Harrte, sah sie mich lächelnd an: Da hat dir

Wundersames geträumt. – Geräumt? O bitte!

Mit leibhaftigen wachen Augen sah ich

All die Wassergeschöpfe, wie auch Böcklin

Sie gesehn und gemalt. – Nun ja, genau wie

Gestern Abend in unsrer Böcklin-Mappe

Du sie sahest noch kurz vor Schlafengehen.

Oder denkst du, ich soll dir glauben, du mit

Deinen hundertundachtzig Pfund vermöchtest

Auf der schwankenden Leiter wie ein Eichhorn

Auf und nieder zu klettern? Überdies hat

Sie der Gärtner am Abend weggetragen,

Daß nicht Diebe bei Nacht ins Haus uns steigen.

Sieh nur nach, ob sie heut noch am Balkon lehnt.


Nun per Bacco! und wär' dies alles richtig:

Was ich sah, ob im Wachen oder Träumen,

Streitet Keiner mir ab, und so behaupt' ich,

Daß ich jetzt um die Nixenschaft im Garda-[438]

See so ziemlich Bescheid weiß, da ich schaute,

Was kein Fischer Gardone's noch ein Kurgast

Je gesehn, den zu baden Nachts gelüstet.

Quelle:
Paul Heyse: Gesammelte Werke, 3 Reihen in 15 Bänden, Reihe 1, Band 5, Stuttgart 1924, S. 435-439.
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