2.

[139] Und wieder hieb,

Taub für den Wahnwunsch,

Den tausendfältigen

Ihres Geschlechts,

Unbarmherzig

Mit eherner Schneide

Die Zeit in ihr Kerbholz:

Wieder ein Tag!

Und wieder nun wandelt,

Fröhlich wie immer,

Singend der Abend

Durch das Goldthor des Westens

Den hängenden Gärten

Der sinkenden Sonne zu

Und leis verhauchen,

Vor Wehmuth zitternd,

Ihr tönendes Leben

Ins Spätroth die Glocken,

Die Trauerglocken

Zu Lübeck, der Stadt.[139]

Und immer stiller

Wird es und stiller –

Und immer dunkler!


Längst ist zerstoben

In alle vier Winde

Des todten Dichters

Letztes Geleit.

Nur hie und da noch

Am Brunn auf dem Marktplatz,

Oder im Winkel

Der dämmrigen Gasse,

Mit verschränkten Armen

Gelehnt an die Hausthür,

Erzählt vertraulich

Der Nachbar dem Nachbarn,

Aus braunem Meerschaum

Bläuliche Wölkchen

Ins Zwielicht blasend:

Wie auch er,

Schon am frühen Morgen,

Den wuchtigen Hammer

Bei Seite gelegt

Und staubüberdeckt

Den blauen Werkeltagskittel

Vertauscht mit dem schwarzen,

Wohlgebürsteten Sonntagsrock.

Wie er, begleitet

Von seinem Vetter,[140]

Dem Fabrikanten,

Drauf gravitätisch

In modischem Aufputz

Dem Zuge gefolgt sei;

Und wie auch er dann

Von seinem Gönner,

Dem Herrn Senator,

Die Gunst sich erwirkt

Und dem grossen Todten,

Dem Ehrenbürger

Der freien Vaterstadt,

Feuchten Blicks

Eine Hand voll Erde

Ins Grab geworfen.


Und immer dunkler

Wird es und dunkler –

Und immer stiller!


Das bleiche Antlitz

Von Schleiern umhangen,

Von Haus zu Haus

Wandelt die Nacht.

In Erkern und Giebeln

Blitzt es von Lichtern auf

Und leuchtende Streifen

Fallen wie Gold

Durch die Scheiben der Fenster

Weit auf die Gasse.[141]

Kaum, dass ein Wandrer,

Der nachtverspätet

Den Heimweg sucht,

Sie quer durchschneidet.

Aber droben im traulichen Zimmer

Am warmen Kamin,

Umringt von den Kindern,

Sitzt die Hausfrau;

Und auf den Schooss

Hebt sie ihr jüngstes,

Blondes Töchterchen,

Die kleine Ada;

Und hochaufhorchend

Vernehmen die Mäuschen,

Dass der alte Mann

Mit dem weissen Schneebart,

Den sie erst gestern noch,

Umduftet von bunten,

Zaubrischen Blumen,

In einem schmalen,

Glasüberdeckten,

Schwarzen Kasten

Bleich und reglos

Liegen gesehn,

Ein König gewesen,

Dessen Reich

So schrecklich gross war,

Dass drin die Sonne

Nie untergegangen.[142]

Und wie die Mutter

Den kauernden Kindern

Dann weiter erzählt,

Dass der todte König

Auch noch ein Zaubrer war,

Der die Sprache der Vögel verstand

Und das Duften der Blumen,

Das Wehen der Winde,

Das Funkeln der Sterne,

Das Rauschen der Wälder,

Ja, selbst den Herzschlag der Menschen,

In wunderselige,

Geheimnisssüsse

Zauberlieder zu bannen gewusst:

Da nickt auch der Vater,

Der seitab im Lehnstuhl

Ueber die Zeitung gebückt

Mit halbem Ohr

Der Erzählerin lauscht,

Und still überdenkt er

Das Leben des Dichters,

Des todten Dichters,

Und siehe auch ihm,

Dem Skeptiker, däucht's nun

Fast wie ein Märchen!


Und weiter draussen

Immer weiter,

Von Haus zu Haus,[143]

Wandelt die Nacht.

Immer stiller

Wird's auf den Gassen,

Immer dunkler

Werden die Fenster

Und ein Licht lischt nach dem andern aus.


Wo aber einsam,

Die schlaflosen Züge

Vom Goldlicht der Lampe

Sanft überhaucht,

Noch ein Menschenkind wacht,

Da wühlt es sich nicht mehr

In düstre Probleme,

Da fragt es sich nicht mehr

Um Sein oder Nichtsein,

Wie weiland Hamlet

Oder Faust:

Ein kleines Büchlein

Mit blankem Goldschnitt

Hält es entzückt

In seiner Hand,

Und golden träufelt

Aus jedem Liede,

Das lustberauscht

Sein bebendes Lippenpaar

Klangvoll ausströmt,

Bezaubernder Wohllaut

Ihm ins Ohr.[144]

Er aber, er,

Der einst vor Jahren,

Vor langen Jahren,

Mit seinem warmen,

Rothen Herzblut

Die Blätter beschrieben,

Dass nach Jahrhunderten noch

Der spätgeborene Enkel –

Zieht er sie prüfend

Aus seinem Erbschrein

Wieder ans Licht –

Von ihrer Räthselkraft

Magisch durchzuckt wird

Und die Blätter,

Die unscheinbaren Blätter,

Nicht hergeben will,

Nicht um Gold und Gesteine:

Er schlummert die Nacht nun,

Die erste Nacht auf dem Friedhof!

Silbern stiehlt sich der Mond

Durch das grüne Gezweig

Und spiegelt sich wieder

In den tausend blanken Blättern,

Die trauernd der Lorbeer

Seinem Liebling

Aufs Grab gestreut;

Und weinend breitet

Die ewige Liebe

Ihre schirmenden Fittige

Drüber aus.[145]


Noch hat der Lenz

Aus seinem Füllhorn

Die schönsten Blumen,

Die lieblichsten Düfte

Nicht über die Erde gestreut,

Denn noch weilt die Nachtigall

»Fern im Süd«

Und klang- und duftlos nur

Grünt der Flieder.

Aber die Liebe,

Die Allurewige,

Glaubend und hoffend

Hebt sie ihr Antlitz,

Ihr thränenumflortes,

Hoch empor

Zu den ewigen Sternen;

Und mitleidsvoll

Leiht der Allgütige

Ihrer Klage sein Ohr.

Mit dunklen Schleiern

Die Gräber um sie

Rings überdeckend,

Zeigt er der Lächelnden

Ein farbenschillerndes

Bild der Zukunft.

Da wird es licht um sie,

Ihr von den Augen

Fällt es wie Schuppen

Und durch ihr Sinnen

Zuckt's wie ein Traumgesicht:[146]

Hochauf recken

Die Thürme von Lübeck,

Die sieben Thürme,

Die vielbesungnen,

Sich blitzend ins Morgenroth

Und aus den Gärten,

Den vollerblühten,

Am Ufer der Trave,

Schluchzt nun die Nachtigall

Ihr erstes Lied!

Aber durchs Stadtthor

Auf staubiger Strasse

Am schwarzen Gitter

Des Friedhofs vorbei

Ziehen zwei Bursche,

Zwei junge Bursche

Mit Ränzel und Knotenstock,

In die weitweite Welt,

Und jubelnd ringt sich

Aus ihren Kehlen,

Aus ihren Herzen

Das alte Lied:

Der Mai ist gekommen!


Der Mai ist gekommen!

Nicht sie allein nur

Sind's, die es singen:

Ein ganzes Volk,

Eine ganze Welt singt's![147]

Und auch er selber,

Der Schwan von Lübeck,

Freudig nun stimmt er

Mit in sein Lied ein;

Ist doch auch ihm nur

Nach irdischem Winterleid

Himmlische Lenzlust

Herrlich erblüht.

Auf schönerem Stern

Der dunklen Schatten

Der dunklen Erde

Eingedenk,

Webt eine Glorie

Ihm um das Haupt nun

Das kleine Wörtchen:

Unsterblichkeit!


Also sinnend

Und in das Göttliche

Tief sich versenkend,

Vergisst die Liebe,

Die ewige Liebe,

Rund um sich her

Tod und Verwesung

Und durch das Herz ihr

Zittert das Echo,

Das wundertröstliche:

»Hoffe du nur!«[148]

Aber die Stunden,

Die lachenden Dirnen,

Goldsohlig wandeln sie

Ueber das Grab.

Und wie allmählich

Korn auf Korn

Durch die Sanduhr rinnt,

Blitzt es röthlich

Am Horizont auf.

Flammend entsteigt

Die junge Sonne,

Die Morgensonne

Des ersten Ostertags,

Dem wogenden Fluthmeer

Der blauen Ostsee

Und lächelnd grüsst sie,

Mit tausend goldnen,

Flackernden Lichtern

Es blitzend umspielend,

Zum ersten Mal –

Das Grab ihres Dichters.[149]


Quelle:
Arno Holz: Buch der Zeit. Berlin 21892, S. 139-151.
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Schönes, grünes, weiches Gras /Trawa zielona, mieekka, cudna: Gedichte aus
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