Lied der Liebe

[109] (Erste Fassung)


Engelfreuden ahndend wallen

Wir hinaus auf Gottes Flur,

Wo die Jubel widerhallen

In dem Tempel der Natur;

Heute soll kein Auge trübe,

Sorge nicht hienieden sein,

Jedes Wesen soll der Liebe

Wonniglich, wie wir, sich freun.


Singt den Jubel, Schwestern! Brüder!

Festgeschlungen! Hand in Hand!

Singt das heiligste der Lieder

Von dem hohen Wesenband!

Steigt hinauf am Rebenhügel,

Blickt hinab ins Schattental!

Überall der Liebe Flügel,

Wonnerauschend überall!


Liebe lehrt das Lüftchen kosen

Mit den Blumen auf der Au,

Lockt zu jungen Frühlingsrosen

Aus der Wolke Morgentau,

Liebe ziehet Well an Welle

Freundlichmurmelnd näher hin,

Leitet aus der Kluft die Quelle

Sanft hinab ins Wiesengrün.
[110]

Berge knüpft mit ehrner Kette

Liebe an das Firmament,

Donner ruft sie an die Stätte,

Wo der Sand die Pflanze brennt,

Um die hehre Sonne leitet

Sie die treuen Sterne her,

Folgsam ihrem Winke gleitet

Jeder Strom ins weite Meer.


Liebe wallt in Wüsteneien,

Höhnt des Dursts im dürren Sand,

Sieget, wo Tyrannen dräuen,

Steigt hinab ins Totenland;

Liebe trümmert Felsen nieder,

Zaubert Paradiese hin,

Schaffet Erd und Himmel wieder

Göttlich, wie im Anbeginn.


Liebe schwingt den Seraphsflügel,

Wo der Gott der Götter wohnt,

Lohnt den Schweiß am Felsenhügel,

Wann der Richter einst belohnt,

Wann die Königsstühle trümmern,

Hin ist jede Scheidewand,

Adeltaten heller schimmern,

Reiner, denn der Krone Tand.


Mag uns jetzt die Stunde schlagen,

Jetzt der letzte Othem wehn!

Brüder! drüben wird es tagen,

Schwestern! dort ist Wiedersehn;[111]

Jauchzt dem heiligsten der Triebe,

Die der Gott der Götter gab,

Brüder! Schwestern! jauchzt der Liebe!

Sie besieget Zeit und Grab!

Quelle:
Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. 6 Bände, Band 1, Stuttgart 1946, S. 109-112.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Prévost d'Exiles, Antoine-François

Manon Lescaut

Manon Lescaut

Der junge Chevalier des Grieux schlägt die vom Vater eingefädelte Karriere als Malteserritter aus und flüchtet mit Manon Lescaut, deren Eltern sie in ein Kloster verbannt hatten, kurzerhand nach Paris. Das junge Paar lebt von Luft und Liebe bis Manon Gefallen an einem anderen findet. Grieux kehrt reumütig in die Obhut seiner Eltern zurück und nimmt das Studium der Theologie auf. Bis er Manon wiedertrifft, ihr verzeiht, und erneut mit ihr durchbrennt. Geldsorgen und Manons Lebenswandel lassen Grieux zum Falschspieler werden, er wird verhaftet, Manon wieder untreu. Schließlich landen beide in Amerika und bauen sich ein neues Leben auf. Bis Manon... »Liebe! Liebe! wirst du es denn nie lernen, mit der Vernunft zusammenzugehen?« schüttelt der Polizist den Kopf, als er Grieux festnimmt und beschreibt damit das zentrale Motiv des berühmten Romans von Antoine François Prévost d'Exiles.

142 Seiten, 8.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.

442 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon