Der Traum

[218] Steh mir immer am Haupt, wenn mich des Morgenschlafs

Leiser Fittig umweht, lächelnder Wonnetraum,

Der mich in die Gefilde,

Wo die Seligen wohnen, rief.


Eine Wolke von Gold, wo ein bepalmeter

Bote Gottes, im Klang schmelzender Lieder, stand,

Trug mich, schnell wie Gedanken,

In ein blumiges Eden hin.


Rosenblütengeruch wehte vom Ufer her,

Wo der Wechselgesang wirbelnder Harfen scholl,

Und die Seelen und Engel

Ihre Jubel verschwisterten.


Singer, Laura, Petrarch, saßen im Kreis umher,

Ihre Lauten am Arm, Vögelgetön erscholl

In die Lauten, und Wohlklang

Floß vom Flügel der Abendluft.


Wonnethränen im Aug, Thränen der Seeligkeit,

Wallte Meta daher, Engel enttrockneten

Ihr die Thränen, und meine

Minna folgte der Wallerin.


Sie entwand sich dem Arm ihrer Gespielin, flog

Mir entgegen, und goß, unter der grünen Nacht

Einer flüsternden Myrthe,

Sich urplötzlich an meine Brust.


Wand den liebenden Arm mir um die Brust herum,

Blickte zärtlich mich an, küßte mit Engelskuß

Meine Lippen. Die Myrthe

Rauschte Silbergelispel drein.
[218]

Geister folgeten uns, Laurens verklärter Geist,

Hand in Hand mit Petrarch, lagerten sich mit uns

In die Kühle der Blumen,

Und begannen mit uns Gespräch.


Plötzlich tönte der Hahn dreymal den Feyerhall

Seines Morgengesangs, plötzlich entschwanden mir

Alle goldenen Scenen

Mit der Schwinge des Morgentraums.
[219]

Quelle:
Ludwig Christoph Heinrich Hölty: Sämtliche Werke. Band 1, Weimar 1914, S. 218-220.
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