Erste Szene


[255] Moskau. Eine Straße. Zwei Bürger. Später Ein Schiffer und Volk.


ERSTER BÜRGER.

Und du, du selber hört'st es, Sokolof?

ZWEITER BÜRGER.

Bin ich ein Narr, der nach Gerüchten schwatzt?

ERSTER BÜRGER.

Tot, sagst du?

ZWEITER BÜRGER.

Tritt beiseit', hier kommt der Schiffer,

Der ihn gefahren hat.


Ein Volkshaufen kommt. Darunter ein Schiffer.


DAS VOLK.

Nun redet, Schiffer.

DER SCHIFFER.

Ihr guten Russen ...

EINIGE.

Heda! Schließt 'nen Kreis.

SCHIFFER.

Ihr guten Russen, ach, warum muß ich

Euch diese schauderhafte Neuigkeit ...

EINER.

Erst sagt uns an: Wer seid Ihr, fremde Seele?[255]

SCHIFFER.

Claus Madsen, Madsens Sohn aus Kopenhagen,

Ein wackres Schifflein hatt' ich untern Füßen,

Und fuhr ums Eiland Ösel. Wisset nun:

Ich hatte Euren großen, gnäd'gen Zar

In Lübeck eingenommen. Jetzt versteht mich:

Im Finnenmeer, dort um das Eiland Ösel,

Starrt es von Klippen, gleich 'ner Hechel. – Wie?

Mein Steuermann ... (Er brenne in der Hölle!)

Der steuert quer. Er war so was betrunken.

Auf einmal gibt's 'nen Stoß. Alles fällt hin.

Ich kucke über Bord ...

EINER.

Fielt Ihr nicht auch?

SCHIFFER.

Wer? Ich? Warum nicht gar! Ich hätt' ja sonst

Nicht über Bord ...

EINER.

Ihr bliebt alleine stehn?

ANDRE.

Laßt ihn, er macht's natürlich, daß man's sieht.

SCHIFFER.

Kuck' also über Bord. Ei, schönes Zeug!

Wir sitzen fest auf einem Stück von Fels,

Von Sandbank, oder sonst dergleichen Ding.

»Hülfe!« ruft's unten. Eine mächt'ge Faust

Streckt aus den Wellen sich. Zornrot geschwollen

Sieht Eures Zaren Haupt empor. Lang fluten

Die aufgelösten schwarzen Haare nach.

Er hatte spähend auf dem Deck gestanden,

Und war von dem gewalt'gen Stoß hinab-

Geschleudert in die Flut. Nun setzt' ich eilig

Ein Boot mit sechszehn starken Kerlen aus,

Den Herrn zu retten. Aber jählings warf[256]

Der wilde Strom das Boot zum Schiff zurück.

Es schaffte nichts. Und jammernd, aus dem Schiff,

Sahn wir den Leib des Herren weitertreiben,

Zuletzt verschwand der Leichnam in der Brandung;

Drei Tage fischten wir, jedoch umsonst.

O Rußland, in dem Meer erlosch dein Licht,

Und auf dem Grunde liegt der Kerze Stumpf.

Mich strafe Gott und hol' der Teufel, sagt' ich

Ein Wort zuviel, zuwenig, oder falsch!

Zu melden dies den mächtigen Bojaren

Schickt Admiral Apraxin mich von Kronstadt.


Ein dumpfes Schweigen unter dem Volke.


EINER nach einer Pause.

Hm!

EIN ZWEITER.

Ja!

EIN DRITTER.

Und ist der Zar denn also tot!

EIN VIERTER zu einem Fünften, der weint.

Was schluchzest du, Iwaschka?

DER FÜNFTE.

Ach Batuschka!

Ach unser Väterchen! Du heller Mond,

Der über Rußland schien!

DAS VOLK herzudringend.

Wer weint?

DER VIERTE.

Iwaschka.

DAS VOLK.

Warum?[257]

DER VIERTE.

Er weint um unsres Zaren Tod.

VOLK.

So, darum weint er.

SCHIFFER.

Nun Adjes, Ihr Leute.

EINER.

Wir gehn mit Euch. Ihr sollt noch mehr erzählen.

Wir hören's gern zweimal. Wie der nur mocht'

Aussehn im Todeskampfe!


Zu den beiden Bürgern.


Geht ihr mit?

ZWEITER BÜRGER.

Behüt' uns Gott!


Das Volk mit dem Schiffer ab. Die beiden Bürger bleiben.


ERSTER BÜRGER.

Was das nun geben wird?

ZWEITER BÜRGER.

Ich denke: Knute.

ERSTER BÜRGER.

Weil der Zar gestorben?

Aus welchem Grund?

ZWEITER BÜRGER.

Aus welchem Grund? – Du Tropf!

Die Ursach' liegt im Stiel und in den Riemen.

ERSTER BÜRGER.

Das ist ein furchtbar Land!

ZWEITER BÜRGER.

Wenn man drin aufwuchs,

Kommt's einem ganz natürlich vor. Ich war

Mit meinen Zobelfell'n auf Handel, weit[258]

In Ungarn, Hamburg, Sachsen, Amsterdam.

Dort sind sie anders, menschlicher. So heißt's.

Mir konnt's da nicht gefallen. Immer dacht' ich

An unser altes, heil'ges Russenreich.

ERSTER BÜRGER.

Wer wohl den Thron besteigen wird?

ZWEITER BÜRGER.

Schweig still

Von Thron und solchen Sachen, Erich Igel!

Wir schwören Treu', wir Bürger, wenn die Herrn

Bojaren, Erzbischöfe, Bischöf', Äbte

Die Sache abgemacht. Bis dahin, Ruh'!

Wie ist's? Gehst mit? Ich hab' ein Fäßchen Kwaß

Vom besten, kriegt' auch Hausen von der Wolga.

Nun? Auf 'nen Imb's? Nicht wahr?


Sie wollen abgehn.


Quelle:
Karl Immermann: Werke. Herausgegeben von Benno von Wiese, Band 4, Frankfurt a.M., Wiesbaden 1971–1977, S. 255-259.
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