Zehntes Kapitel

[50] Ein Hirschgeweih über der Pforte, und das Anschlagen der Hunde von einem Hinterhofe her, kündigten die Wohnung eines Weidmanns an. Hermann schritt durch den mit Bäumen bepflanzten Vorraum, und klopfte an die aus zwei Hälften bestehende Tür. Von innen riefen zarte Stimmen: »Ach, er kommt! Er kommt!« Die Tür ward auf getan, er trat in eine nur vom Kohlenfeuer des Herdes beleuchtete Küche, zwei Kinder drängten sich an ihn, und fragten ängstlich: »Sie sind doch der Herr Doktor?«

»Ich bin kein Arzt, Kinder«, versetzte Hermann, »ich bin ein verirrter Reisender, der um ein Nachtlager bitten wollte. Wo sind eure Eltern?«

Statt hierauf zu antworten, warf sich das Mädchen jammernd über einen Stuhl, die hellen Tränen drangen aus dem Gesichtchen, sie rief schluchzend: »Unsre Mutter stirbt, und alles hat uns verlassen!«

Anfangs stand der Knabe, wie verlegen, still und tränenlos neben der Weinenden, dann zuckte es um seine Lippen, er ballte die Hände, stampfte mit dem Fuße, riß das Haupt der Schwester an seine Brust, drückte es heftig an sich, und sagte mit einer Stimme, die halb wie Trotz, halb wie die innigste Liebe klang: »Cornelie, du sollst nicht weinen.«

»Muß ich zuletzt noch an ein Krankenlager geraten!« rief Hermann. Er sah sich um, es war das gewöhnliche Innere eines[50] westfälischen ländlichen Hauses. Die Küche mit dem Feuerherde als allgemeiner Versammlungsort in der Mitte, mit Fliesen gepflastert, mit schwarz-beräucherten Bohlen gedeckt. Hinter diesem Raume der Viehstall, ohne sonstige Trennung von dem Aufenthalt der Menschen, als durch die Krippe. Gegenüber ein paar Türen, die zu den kleinen Zimmern in den vorspringenden Teilen des Gebäudes führten.

Ein Ächzen ließ sich nebenan vernehmen. Hermann ging zu dem Bette der Kranken. Sie fieberte und phantasierte, sprach viel von einem Fräulein und von Briefen, und wiederholte oft mit Heftigkeit den Ruf: »Die Briefe weg! Verbrennt die Briefe!« Er kehrte zu den Kindern zurück. Sie schienen in dem einsam liegenden Waldhause ganz allein zu sein. Er begriff nicht, wie man die Gewissenlosigkeit so weit hatte treiben können, ihnen die Kranke, und sie sich selber zu überlassen. Aufs neue schien ihm die Schutzrolle zugeteilt zu sein, und der Tag sollte enden, wie er begonnen hatte.

Der Knabe sagte ihm, es sei nach dem Arzte in der Stadt geschickt worden, welcher auch versprochen habe, zu kommen. Sie hätten nun von Stunde zu Stunde auf ihn gewartet, und als sie das Klopfen gehört, gemeint, er sei endlich da.

Hermann suchte die armen Geschöpfe mit herzlichen Worten zu beruhigen. Er nahm sie bei der Hand, streichelte ihre Wangen, sprach ihnen Mut ein, und versicherte, mit der Mutter habe es keine Gefahr, er sei zwar kein Arzt von Profession, verstehe sich aber doch auf die Krankheiten, es sei nichts als ein Flußfieber. Der getroste Ton, mit dem er sprach, machte einen günstigen Eindruck auf seine Schutzbefohlnen. Cornelie trocknete die Tränen im Schürzchen ab, lehnte sich an ihn, und umfaßte, da er nicht aufhörte, zu trösten und zu ermutigen, mit beiden Händen seinen Arm. Ihren Bruder, den sie Ferdinand rief, schien dies zu verdrießen, er lief in eine Ecke der Küche, stampfte wieder mit dem Fuße, und sagte derb und trocken: »Cornelie, mich hungert, koch etwas zu essen.«

Auch Hermann wären ein paar Bissen angenehm gewesen. Zu seinem Erstaunen wußten die Kinder trefflich Rat zu schaffen. Ferdinand war rasch eine Leiter über dem Kuhstalle hinauf[51] zu einer Art von Verschlage, kroch hinein, Hühner schrieen, gleich darauf kam der Knabe mit einem Tuche voll Eier herab. Cornelie hatte unterdessen den Wasserkessel, der nach Landesbrauch nie den Haken über dem Herdfeuer verließ, in die Siedenähe gerückt, und tat die Eier hinein. Ferdinand spürte das Brot und die Butter auf, das Tischtuch, die Messer und Gabeln fanden sich, in wenigen Minuten war der Tisch gedeckt. Cornelie nahm mit der Kelle die Eier aus dem Wasser, setzte sie auf, ging in die Krankenstube, kehrte, ein neues Schürzchen vorgebunden, zurück, und nötigte, zierlich sich verneigend, ihren Gast zum Essen.

Hermann hatte mit Behagen den lieblichen Gestalten zugesehn, wie sie sich geschäftig vor dem Feuer des Herdes hin und her bewegten. Es war, als führten sie seit Jahren eine Wirtschaft, so geschickt war alles Häusliche von ihnen besorgt worden. Nun setzte er sich mit seinen jungen Wirten zu Tische, nicht neben Cornelien, denn zwischen sie und ihn hatte sich Bruder Ferdinand geschoben.

Hermann mußte über die kindische Eifersucht lächeln. Der Knabe genoß, obgleich er vorher sehr hungrig getan hatte, nun fast gar nichts, hing mit seinen Blicken an Cornelien, und drückte ihr verstohlen die Hand, sooft sie dieselbe vom Tische nahm. Sie litt es einige Male, dann aber zog sie dieselbe hinweg, und sah verschämt nach Hermann hinüber. Nur das Feuer des Herdes leuchtete zu dem kleinen Mahle, Kerzen hatten die Kinder nicht zu finden gewußt. Sie plauderten allerlei; vom Vater und dem nach ihm geschickten Boten, daß der Vater gewiß morgen kommen werde, daß nun alles gutgehe, da die Mutter nur das Flußfieber habe. Dieses Wort, und die Gegenwart Hermanns hatte sie beruhigt, sie schienen ihre Angst vergessen zu haben. Die Kranke war auch still geworden, und lag in einem tiefen Schlummer.

Hermann fühlte sich in dieser Stille ungemein wohl. Er kam sich wie ein Hausvater vor; alles war so heimlich, traut und natürlich, der kleine Tisch, die schönen Kinder, manch ländliches Gerät umher im ungewissen Feuerschein. Um die Ekloge zu vollenden, erhoben sich ein paar breitgestirnte Kühe, durch das späte Geräusch aufgestört, von ihrer Schlummerstätte und[52] streckten über die Krippe ihre Köpfe dumm und zutraulich nach den Menschen hinüber. Endlich hieß Hermann die Kinder, welche, überwacht, noch munter fortschwatzen wollten, sich niederlegen. Er versprach ihnen, wach zu bleiben, und auf die Mutter zu achten. Die Wanduhr hatte Eins geschlagen. Ferdinand ging, Cornelie machte noch ein Glas Brotwasser für die Kranke zurecht. Dann wollte sie dem Bruder folgen, und wünschte ihrem Beschützer wohl zu schlafen. Dieser umfaßte sie, und wollte ihr unbefangen, wie man mit Kindern zu tun pflegt, einen Kuß geben. Aber sanft entwand sie sich ihm, und flüsterte ängstlich: »Ach nein, lassen Sie das doch!« Indem sie ging, kam sie ihm länger vor, er wußte nicht, wo er zuerst die Augen gehabt hatte, daß sie ihm so gar klein erschienen war.

Quelle:
Karl Immermann: Werke. Herausgegeben von Benno von Wiese, Band 2, Frankfurt a.M., Wiesbaden 1971–1977, S. 50-53.
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