Fünftes Kapitel

[593] In der Nacht, welche diesem Abende folgte, lag Ferdinand in der Hütte des alten Kammerjägers, mit dem er seit längerer Zeit geheimen, vertrauten Umgang pflog. Spät war er zu ihm gekommen, hatte hastig mehrere Gläser des geistigen Getränks, an welches er sich in dieser wilden Gesellschaft gewöhnen mußte, hinuntergestürzt, und war dann nach heftigen und unbändigen Reden eingeschlafen.

Der Alte, welcher auf der einsamen Klippenhöhe – derselben, wo einst die leidenschaftliche Begegnung zwischen Hermann und Ferdinand sich ereignet hatte – abgesondert von aller menschlichen Gemeinschaft hauste, trieb schon eine geraume Zeit in der Gegend sein Wesen. Er bot allerhand[593] Kräuteröle und Essenzen feil, vertilgte die Ratten und Mäuse, und da er zu seinen Mitteln und Hülfsleistungen immer noch einen biblischen Spruch obenein in den Kauf gab, so hielten ihn die Landleute für einen vertriebnen Priester, und erzählten sich die wildesten Geschichten von ihm. Woher er gekommen war, wußte niemand; da er indessen einen Erlaubnisschein zu seinem Gewerbe hatte, keinen belästigte und nichts Übles tat, so mußte man ihn unangefochten gehn lassen. Zuweilen hielt er sich in der Nähe der Fabriken auf, sah starr nach dem Herrenhause und murmelte unverständliche Worte für sich hin. Da aber hier ein jeder mit seinem eignen Tagewerke genug zu schaffen hatte, so achtete niemand dessen, was außer dem Arbeitswege lag, und der murmelnde Alte war ihnen schon zur gewöhnlichen Erscheinung geworden, aus der keiner ein Arg hatte.

Er leuchtete dem Schlummernden, dessen Züge von stürmischer Leidenschaft zuckten, mit der Lampe scharf ins Gesicht, blickte nach einem auf dem Tische liegenden blanken Messer, und sagte: »Jetzt könnte ich es tun, und den Samen der Feinde vertilgen! Sie sind hinter sich getrieben worden, sie sind gefallen und umgekommen vor dir. Denn du führest mein Recht und meine Sache aus, du sitzest auf dem Stuhl, ein rechter Richter. Du schiltst die Heiden und bringest die Gottlosen um, ihren Namen vertilgest du immer und ewiglich.«

Er griff nach dem Messer, legte es aber wieder hin, und rief: »Stehet nicht geschrieben? Wer einen Menschen schlägt, daß er stirbt, der soll des Todes sterben. Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vornehmen unter dem Himmel hat seine Stunde. Anschläge bestehen, wenn man sie mit Rat führet, und Krieg soll man mit Vernunft führen. Wie man einen Knaben gewöhnet, so läßt er nicht davon, wenn er alt wird.«

Er setzte sich zu seinen Wurzeln, Ölen und Schmalzen, und begann, in diesen unsaubern Dingen zu wühlen. Ein widerlicher, für nicht ganz abgestumpfte Geruchsnerven unerträglicher Dunst begann sich zu verbreiten, von dem auch wohl der Schläfer erwachen mochte. Er rieb die Augen, riß sie dann weit auf, sprang von seinem Strohlager empor,[594] stellte sich vor den Alten und rief: »Laß deine albernen Schmierereien und hilf mir!«

»Was fehlt Euch denn, und wo sitzt es, Junker?« fragte der Alte.

»Hier«, rief Ferdinand, und schlug mit der geballten Faust auf die Brust.

»Sprecht und saget an, daß man Euch verstehe«, erwiderte der Alte. »Vorhin, als Ihr zu mir gestolpert kamt, wart Ihr so außer Euch, daß ich meinte, Ihr hättet vom Bilsenkraut genossen, welches der Menschen Gehirn verstört. Nichts habe ich von allem dem begriffen, was Euren Lippen da entsprudelte.«

Der verwilderte Jüngling setzte sich dem Alten gegenüber, stemmte den Kopf auf, und aus seinen Augen brach ein Tränenstrom mit einer Gewalt, wie wenn Quellen sich durch Felsen die Bahn erzwingen. Dieser Regen des Schmerzes erweichte seine Züge, welche, ungeachtet aller Entstellung durch Ausschweifungen, noch immer viel von ihrem ursprünglichen Adel und von der unschuldigen Schönheit der Kinderjahre hatten, so daß sein Anblick jeden Empfindenden mit Rührung erfüllt haben würde. Der Alte aber ließ ihn weinen, rieb gleichgültig seine ekelhaften Spezies ferner ab, und sagte nach einer Weile: »Vom Trauern kommt der Tod, und des Herzens Kummer schwächt die Kräfte. Redet endlich, denn am Lachen und Flennen soll man den Narrn erkennen.«

»Er ist wieder da; bei dem Pfaffen versteckt er sich, der Leidige, das Ungeheuer, dem ich das Herz aus dem Leibe reißen möchte, und es in die Tiefe werfen, da, wo es die Füchse fressen!« rief Ferdinand. »Wie lange wird es dauern, so heiraten sie einander! Ich glaubte, es sei vorbei, dein Branntwein schmeckte mir, und der Spaß mit dem Mädchen, zu dem du mich führtest, tat mir wohl, aber nun er wieder da ist, hat sich alles umgekehrt. Ich will nur gleich zwischen des Vaters Maschinen geraten, und von ihren Rädern zerquetscht werden, wenn ich Cornelien lassen soll, die mein Leib, meine Seele, mein alles ist, um die ich durch die brennende Hölle ginge!«[595]

»Da wäre nun kein andrer Rat«, sagte der Alte, »als, Ihr müßtet Euch des Kerls zu entledigen suchen. Lauert ihm auf, wenn er allein geht, und stoßt ihn von hinten nieder, so ist der Weg zum Mädchen frei.«

»Wie dumm du bist!« rief Ferdinand. »Mord kommt an den Tag, das habe ich in allen Geschichten gelesen. Sie schlügen mir den Kopf ab, und ich hätte nichts davon. Nein, wozu ich noch immer Verlangen trüge, das wäre ein Duell auf Leben und Tod. Wenn man darin seinen Gegner niederschießt, so kommt man zwar auch auf die Festung, aber sie lassen einen bald wieder frei. Das erzählte neulich einer über Tisch.«

»Ihr habt ja Pistolen, fordert ihn also«, sagte der Alte.

»Und wer versichert mich, daß ich ihn treffe?« fragte Ferdinand. Er sann eine Weile stumm vor sich nieder, dann riß er das Haupt des Alten, der immer in seiner Beschäftigung fortfuhr, gewaltsam beim Schopfe empor, sah ihm mit einem seltsamen Blicke in das Antlitz, und sagte leise: »Höre du; weißt du, ob es Treffkugeln gibt?«

Der Alte legte seine Sachen weg, und versetzte: »Oho! Wollt Ihr da hinaus? In der Stadt haben sie, wie ich mir sagen lassen, einen großen Spektakel und Gesang darüber gemacht. Sie ziehn einen rot an, den nennen sie den Simon oder Samuel, ich weiß nicht recht, wie er heißt, und dann geht ein aberwitziger Lärmen in der sogenannten Wolfsschlucht vor sich. Nichtsnutzige Possen das! Auf solche Lappalien horcht nichts in dem Abgrunde der Kräfte, die muß man an einem andern Zipfel zu fassen wissen. Ob es wahr ist, weiß ich nicht, gesprochen wird davon unter uns Leuten vom Fache.

Es steht geschrieben im zweiten Buche Mose am einundzwanzigsten: Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß, Seele um Seele. Davon machen sie die Nutzanwendung; wer seines Lebens nicht achtet, um das Schießblei zu gewinnen, dem wird das Blei auch alles Leben in die Hände geben, an welches er will. Sie sagen, wer ein Stück Blei, aber es muß nicht von einer Kirche sein, mit Todesgefahr erobert, der kann daraus Kugeln gießen, vor[596] denen kein Kraut gewachsen ist. Wißt Ihr ein solches Stück Blei, so tut, was Ihr nicht lassen könnt, und plagt mich nicht weiter, denn es ist hoch Mitternacht, und ich bin schläfrig.«

Die Lampe war über diesem Gespräche erloschen. Ferdinand tappte im Dunkeln fort, und der Alte streckte sich mit den Worten: »Wenn ihm nun ein Unglück begegnet, so ist die Brut der Ungerechten zertreten, ohne daß ich schuld daran habe«, auf sein Lager.

Quelle:
Karl Immermann: Werke. Herausgegeben von Benno von Wiese, Band 2, Frankfurt a.M., Wiesbaden 1971–1977, S. 593-597.
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