Zehntes Kapitel
Ein Munkel! Ein Munkel!

[593] »Ein Munkel, ein Munkel!« schrie Karl Buttervogel, entsetzt hereinstürzend und den Kopf mit beiden Händen haltend. Ein Schuß fiel dicht vor der Türe, alle Anwesende erschraken und zogen sich in eine Fensterecke zurück, der alte Baron aber trat wütend mit der abgeschossenen Pistole in der Hand zur Türe herein.

Karl Buttervogel war auf den Schuß gegen den Tisch gestürzt, hatte diesen umgerannt, die Gläser zerbrochen, die chemischen Flüssigkeiten rauchten am Boden umher oder ätzten Löcher in das Arabeskenprotokoll – bei dem Eintritte seines Verfolgers aber taumelte er aufheulend hinter das Bette des Freiherrn, kauerte sich dort nieder und ergoß sich in einer unhemmbaren Flut von Gründen, Bitten und Geständnissen, denn die Todesfurcht hatte seine Zunge zu wundersamer Geläufigkeit entbunden, und er schwatzte unaufhaltsam vermutlich deshalb, weil er glaubte, so lange als er rede, noch nicht totgeschossen zu sein.

Der Schriftsteller, der in diesem Dunst, Dampf, Knall, Getümmel kaum sich selbst vor dem Umgeranntwerden zu bewahren vermocht hatte, trat über den umgestürzten Tisch, das teilweise durchlöcherte Konferenzprotokoll und die rauchenden Flüssigkeiten hinweg heftig auf den alten Baron zu und rief, die Uhr ihm vor die Augen haltend: »Diesen gröblichen Bruch der Verträge möge Ihnen das Völkerrecht verzeihen, Herr Baron, ich kann es nicht. Sie haben die Feindseligkeiten dreißig Sekunden vor Ablauf des Waffenstillstandes begonnen.«

»Mein Herr«, polterte der alte Baron, »der Sie sich hier einmischen, ohne daß ich begreife, mit welchem Rechte, ich habe es nicht mit Ihrem albernen Waffenstillstande, noch mit jenem verruchten Nachschläfer von neun Monaten, drei Tagen und achtzehn Stunden zu tun, sondern ich verfolge mein Recht wider den Kerl von Bedienten, der mich noch gröblicher beleidigt hat, als der Herr, der Türenverrammler! Erst mich abgefressen,[593] und kahlgefressen; die Katze, das unschuldige Tier, in schändlichen Verdacht und Prügel gebracht, und dann zu guter Letzt mich und meine Tochter noch durch freche Reden beschimpft – der Gaudieb – –«

» ... in Rührung gewesen, ganz aufgelöst fast vor Tränen, nichts als Schwiegersohn vom Kopf zum Fuß, hingekrochen wie ein Hund zum gnädigen Herrn, um den Segen gebeten, und dann statt des Segens Ohrfeigen gekriegt, oh, oh, oh, das schmerzt, das tut weh ...« wimmerte Karl Buttervogel dazwischen.

»Also hinweg, mein Herr, und hindern Sie mich nicht in meinem Hausrechte!« rief der alte Baron. »Diese Pistole war nur blind geladen und ich schoß ab, weil Donner und Knall das Herz des Mannes erfrischt, aber den Schuft da will ich hinter dem Bette seines Schelms von Gebieter hervorholen und ihm mit dem Kolben der Pistole so lange den Rücken dreschen, bis er genug hat, und das soll kein leerer Lärmen sein.«

»Nun dann in Gottes Namen!« rief der Schriftsteller. »Ich sehe, die Gegenwart ist zu einer planmäßigen Behandlung großer Angelegenheiten nicht geeignet. Vergebens, daß man über eine Frage der Zeit den Bogen zum Protokolle bricht und alles in den schönsten Gang bringt – in der Nachbarschaft fangen ein Paar Narren miteinander Spektakel an, blind wird geknallt, der eine Narr flüchtet sich auf neutrales Gebiet, der andere hinterdrein und umgeschmissen ist Protokoll, Konferenz, Tisch, und die Sache steht auf dem Kopfe, die eben noch auf den Füßen stand. So walte denn du weiter, Macht der Umstände! Ich ergebe mich in deine Fügungen.« – Er trat zur Seite, einen wehmütigen Blick auf den Schlummernden werfend.

Der alte Baron näherte sich mit starken Schritten dem Bette und rief Karl Buttervogel mit donnernder Stimme zu: »Will Er wohl gleich dahinter hervorkommen?«

»Nein, niemals dahinter hervor!« rief Karl, der inzwischen unaufhörlich fortgesprochen hatte, ohne daß auf ihn gehört worden war, zitternd. – »Niemals dahinter hervor, denn so ein Pistolenkolben sieht nicht, wohin er schlägt, aber alles andere dem gnädigen Herrn zu Gefallen tun, wie gerne! Denn durch[594] so eine Ohrfeige wird das Menschenkind schon klug gemacht und alle schlechten Gedanken gehen ihm aus dem Kopfe von Fürst und Hechelkram und vornehmer Lieb' und es sein wollen, wenn fernerweite gute Verköstigung zugesagt wird, und Riek' in Stuttgart ist vor mich gut genug und keine andere, und auf diesen Herrn da, der schläft, ganz und gar keine Rücksicht zu nehmen nötig, denn wer so seinen Bedienten in der Not verläßt und einschlummert, wenn man blind geladen totgeschossen worden ist, der ist gar kein Herr nicht, sondern nur ein schlechter Munkel.«

»Was? Der Doktor Reifenschläger? Der Captain Gooseberry? Der unsterbliche Hegel?« riefen die Interessenten an Münchhausen dazwischen.

»Munkel! Munkel! Munkel! Nichts als Munkel, so hat er sich selbst genannt, wenn er mir von seiner Erzeugung die verfluchten und ganz unmenschlichen Geschichten erzählte!« schrie Karl Buttervogel lauter.

»Der Mensch will vermutlich Homunkulus sagen«, sprach der Schriftsteller.

»Und ich weiß doch, was der gnädige Herr Baron da mit der Pistole bedeuten wollen und wornach Ihr Sinn steht, und Not bricht Eisen und für nichts und wieder nichts verrate ich meinen Herrn nicht, aber für fünf Taler hätte ich's schon heut morgen getan und sein Leben muß der Mensch retten und wenn einem das Wasser bis an den Kragen geht, so schreit die Kreatur, und niederträchtig ist es dabei hergegangen, wie mein Herr entstanden ist, und wenn der Mensch nicht mehr von Vater und Mutter abstammt, so hört aller Verlaß auf; denn bloß so zusammengekocht zu werden, wie mein Herr, das ist nichts und kann ein jeder. Und weil meines gnädigen Herrn sein gnädiger Herr Vater mit seiner gnädigen Frau Gemahlin keine Kinder zuwege bringen konnte, weil die gnädige Frau den gnädigen Herrn nur aus Achtung für den alten Lügen-münchhausen, den gnädigen Herrn Großvater von meinem gnädigen Herrn geheiratet hatte, was eine trockene Ehe gibt, und der gnädige Herr Vater doch so gern einen Herrn Sohn gehabt hätten ganz vor sich und apart und ohne schönen Dank an die gnädige Frau und so viel verstanden haben von Apothekerwissenschaften[595] und unnatürlichen Schnurralien, so haben sie da meinen Herrn einstmals aus verschiedenem Jux und Siebensachen, Gassen, Kochsalz, Salpeter und was weiß ich sonst noch alles von Teufelskram zusammengebraten, geschmort, gekocht, geschmolzen, geröstet, abfiltriert, worüber sie eine überaus ausnehmende Freude gehabt, aber in schrecklichen Verdruß mit der gnädigen Frau gekommen, die den sogenannten Herrn Sohn aus dem Schmelztiegel und der Bratpfanne gar nicht vor Augen haben leiden mögen, denn das können die Weibsleute nicht vertragen, so etwas, und alles muß seinen regulären Gang gehen bei ihnen, und deshalb auch immer nachmals mein gnädiger Herr sich chemisch geschmiert, mit den Sachen, die ich aus der Apotheke geholt, um sich wieder aufzufüllen und herzustellen, und mir alles dieses vor Jahren schon entdeckt aus Bedürfnis nach einem liebenden Freunde, weil sie auch sehr betrübt gewesen sind über diese Geheimnisse und nur mit Schmerzen an ihren Herrn Vater gedacht, und da fließt sie ja noch heute am Boden umher die chemische Schmierung und also ist es nun heraus und am Tage, was mein gnädiger Herr eigentlich sind, und weil ich doch nun meinem ehemaligen Herrn Schwiegervater ganz umsonst einen so schönen Gefallen getan habe, so bitte ich gehorsamst, daß Sie die Absicht aufgeben mit dem Pistolenkolben, denn ich bin unglücklich genug, und von Wurst und Eiern und Rindfleisch wird wohl nichts weiter gebrummt werden, weshalb mir noch der technische Mitdirektor bleibt und das ist gewiß und wahrhaftig, daß er kein natürlich entstandener Menschenchrist ist, wie wir alle, sondern ein von seinem chemischen Säurenvater, wie er ihn auch unterweilen nannte, zusammenpräparierter Munkel, dieser Herr von Münchhausen.«

»Münchhausen?« riefen die Interessenten erstaunt.

»Münchhausen heißt der Mann, der Ihnen das Menschenrasseveredelungsinstitut organisieren, Ihnen Land auf den Koralleninseln verschaffen, Ihnen die drei magischen abstrakten Formeln mitteilen wollte«, sagte der Schriftsteller. – »Es dürften noch mehrere Plane und Projekte von ihm an das Tageslicht kommen, die er unter verschiedenen Gestalten zum[596] Wohle der Menschheit ersonnen, wenn einmal sein Leben vollständig beschrieben werden wird.« »Aber wer ist er denn eigentlich?« fragten alle. »Sein eigener Vater und Großvater, der nie gestorbene nimmer verwelkte ehemalige Jagd- und Pferdegeschichtenerzähler Freiherr von Münchhausen auf und zu Bodenwerder«, sagte der Freiherr, der sich hier zum Erstaunen der Versammlung starr und steif von seinem Bette emporrichtete, mit hohlem Ton und weitgeöffneten gläsernen Augen. – »Im Besitz eines Lebens- und Verjüngungselexiers; dadurch erhalten, restauriert und nach Maßgabe der Zeiten metamorphosiert schon seit nunmehro zwei Menschenaltern, was jener Tropf von Bedienten mißverständlich aufgefaßt hat, wie denn überhaupt der Freiherr von Münchhausen oft so unglücklich gewesen ist, mißverstanden zu werden.«

Nach dieser neuen Erklärung schloß Reifenschläger-Gooseberry-Hegel-Homunkulus-Münchhausen die Augen und fiel abermals zu dem Schlummer des Gerechten nieder. Unter den Anwesenden aber zeigten sich Symptome, daß ihr Verstand solchen Vorfällen nicht gewachsen sei.

Der alte Baron stand abseitig und stieß mit der Fußspitze an die Scherben der Gläser, als wollte er deren Inhalt untersuchen. Er hatte, sobald Karl Buttervogel seiner wundersamen Entdeckungen quitt geworden war, die Pistole sinken lassen und seine Augen nahmen allgemach einen seltsam-irren Ausdruck an. Zuweilen warf er dem Schläfer einen scheuen Blick von der Seite zu und murmelte dabei: »Nicht einmal ein Mensch, nur ein Munkel, o pfui, und ihn du genannt – pfui – pfui!« – Die Interessenten rieben mit sonderbaren Gebärden die Stirnen, Semilasso rezitierte französische Verse, der Ehinger hieb mit dem Stocke auf den Boden, die drei Unbefriedigten kehrten ihre Sammetkappen um, so daß die Schirme hinten zu sitzen kamen. Draußen pfiff der Wind, das alte Schloß bewegte sich in seinen Grundfesten und die Sonne sah durch den weißen Dunst, in ihrem Strahlenlichte geschwächt und entstellt, wie ein riesiger gelber Eidotter zum Fenster herein. Alle fühlten, daß ihre Vernunft im Schwanken war, und nur Karl Buttervogel war mit seinem Lose zufrieden. Er saß hinter[597] dem Bette und dankte Gott, daß er durch einen Verrat zur rechten Zeit dem drohenden Pistolenkolben entgangen war.

In dieser allgemeinen Not und Bedrängnis erschien der Schriftsteller wieder als der einzige noch übrige Halt; und alle wiederholten ihre Frage an ihn: »Wer ist er denn eigentlich?«

»Meine Herren«, versetzte der Schriftsteller, »ich weiß es nicht.«

»Wie?«

»Mir ist vielleicht mehr von seinen Lebensumständen bekannt als Ihnen«, sagte Immermann, »wer er aber eigentlich ist, das weiß ich so wenig, als Sie.«

Quelle:
Karl Immermann: Werke. Herausgegeben von Benno von Wiese, Band 3, Frankfurt a.M., Wiesbaden 1971–1977, S. 593-598.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Münchhausen
Münchhausen: Eine Geschichte in Arabesken
Münchhausen. Eine Geschichte in Arabesken
Der Oberhof: Aus Immermanns Münchhausen
Münchhausen. Eine Geschichte in Arabesken
Münchhausen: Eine Geschichte in Arabesken, Volumes 1-2 (German Edition)

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Therese. Chronik eines Frauenlebens

Therese. Chronik eines Frauenlebens

Therese gibt sich nach dem frühen Verfall ihrer Familie beliebigen Liebschaften hin, bekommt ungewollt einen Sohn, den sie in Pflege gibt. Als der später als junger Mann Geld von ihr fordert, kommt es zur Trgödie in diesem Beziehungsroman aus der versunkenen Welt des Fin de siècle.

226 Seiten, 8.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.

442 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon