Drittes Kapitel
Die Geschichte eines Geächteten

[676] Der Patriotenkaspar hatte sich, nachdem er vom Rothaarigen verabschiedet worden war, noch immer in der Nähe des Oberhofes umhergetrieben, um mit dem alten Schmitz zu sprechen. Denn zu diesem hatte der gemiedene und geringgeschätzte Mensch eine Art von Verhältnis. Der Sammler hatte ihm manchen Groschen geschenkt und sah ihn nicht ungern. Weil der Patriotenkaspar überall umherstrich und -kroch, so war es ihm möglich gewesen, dem alten Raritätenfreunde hin und wieder eine nützliche Nachweisung zu erteilen, oder ihm auch wohl selbst irgendein seltsam geformtes Schnitzwerk zuzubringen. Der alte Sammler war daher auch der einzige, bei dessen Anblick in die arme und elende Brust dieses jämmerlichen Bettlers ein Gefühl drang, daß er doch nicht ganz und gar auf dieser Gotteswelt ein Ausgestoßener sei. Für den alten Schmitz wäre er durchs Feuer gegangen, er, der sonst am vergnügtesten lachte, wenn anderen etwas recht Übles begegnet war.

Jetzt lauschte er hinter einer Wallhecke an einem Felde des Oberhofes, ob er seinen alten Gönner nicht allein ansichtig werden möchte. Als er ihn vorher in der Gesellschaft des Hofschulzen vorbeiwandern gesehen, hatte er nicht gewagt, ihn anzureden. Entdecken wollte er ihm etwas vorlängst Geschehenes, und ihn um eine sonderbare Hülfe ersuchen. Nach langem Harren war ihm endlich die rechte Stunde dazu gekommen. – »Nun ich meine Lust gebüßt habe an dem alten Bluthunde und er den Tort hoffentlich nicht verwindet, den ich ihm angetan – denn es liegt wohl versteckt, tief versteckt, und das Dach wird er darnach nicht abdecken lassen – nun will ich auch mein Recht erleiden, wie recht ist«, sagte er hinter seiner Wallhecke.

Der alte Schmitz kam vom Oberhofe zurück und ging vorüber. Der Patriotenkaspar begrüßte ihn und sagte: »Herr Schmitz, ich habe hier auf Sie gewartet, weil ich Ihnen etwas offenbaren wollte.«[676]

So verdrießlich der Sammler war; diese Anrede, in welcher er nur die Ankündigung eines Fundes für sein Kabinett zu hören glaubte, machte ihn aufmerksam. Er stand still und fragte: »Was ist es denn, Kaspar?« – »Nein«, versetzte der Spielmann, indem er seinen Leierkasten über den Rücken warf, »hier kann es nicht geschehen, sondern an Ort und Stelle muß es veroffenbart werden.«

Er ging dem Sammler auf dem Wege, der nach dem Hofe des Schwiegersohnes führte, voran, bog jedoch einige hundert Schritte von diesem Hofe in einen Seitenpfad ein, der zwischen Erdwänden vertieft unter hohen Rüstern dunkel fortlief. Nicht weit hinein kreuzte den ersten Pfad ein zweiter. Er war noch dunkler, weil ihn noch höhere Bäume überschatteten.

An diesem Kreuzwege, der einsam und schauerlich zwischen den Erdwällen, Rüstern, zwischen Brombeergebüsch, Nachtschatten und Schierling lag, setzte der Spielmann seinen Leierkasten ab, bog einen Brombeerbusch zurück, so daß ein großer Stein entblößt wurde, kniete vor dem Steine nieder und sagte dann, halb rückwärts nach dem Sammler gewendet: »Hier war's.«

Der Sammler, welcher glaubte, der Patriotenkaspar werde dort etwas für ihn aus der Erde scharren, trat dicht zu ihm hin, senkte seinen Kopf, so daß er fast die Schulter des Knienden berührte und fragte eifrig: »Was? Was?«

Der Patriotenkaspar sah ihm, mit dem Auge unstet zwinkernd in das Gesicht und sagte heiser und gedämpft: »Hier habe ich einstmals des Hofschulzen seinen Sohn, den Fritze, totgeschlagen.«

Ein Knabe, der von einem Strauche eben eine leckere Beere pflücken will und dem Unversehens unter dem Strauche eine Natter mit funkelnden Augen entgegenzischt, kann nicht erschreckter zurückfahren, als der alte Schmitz bei dieser Eröffnung vor dem Patriotenkaspar zurückfuhr. Den Blick starr auf ihn heftend und rückwärts vor ihm weichend, als fürchte er, einem geständigen Mörder seinen Rücken preiszugeben, entfernte er sich bis in die entgegengesetzte Ecke des Kreuzweges. Dort blieb er stehen, den Patriotenkaspar immer[677] in das Auge gefaßt, unschlüssig, ob er nun sich wenden, so fortgehen und dadurch den gefährlichen Menschen aus seinem beobachtenden Blicke verlieren sollte.

Der Patriotenkaspar seinerseits richtete sich an dem Steine empor. Als er bemerkte, welchen Eindruck seine Worte auf den einzigen Gönner machten, den er besaß, nahm sein Auge einen wehmütigen Glanz an, und in der verwüsteten Stimme zitterte etwas wie Trauer, als er so sprach: »Ach, mein lieber Herr Schmitz, warum fürchten Sie sich doch vor mir? Ich bin ja ein armer, zerlumpter, von Hunger entkräfteter Mensch. Sehen Sie, da kehre ich meine Taschen um, und es ist nichts darin, weder Messer, noch Hammer noch sonst etwas, womit ich Sie erstechen oder erschlagen könnte. Wenn Sie sich aber vor meinen Fäusten fürchten, so will ich da mit meinem Halstuche sie binden, so daß Sie ganz sicher sein können, daß Ihnen kein Leid von mir widerfährt. Ich wollte Ihnen bloß die alte Geschichte erzählen und Sie um eine Güte und Gefälligkeit bitten.«

Der Sammler, der sich noch immer nicht zu fassen wußte, sagte: »Ich glaube. Ihr seid betrunken, Kaspar.«

»Nein, Herr Schmitz, wüßte nicht, woher das kommen sollte, indem ich wenig genossen habe«, versetzte der Patriotenkaspar. »Ich wiederhole Ihnen in der Nüchternheit: Hier habe ich des Hofschulzen seinen Fritze totgeschlagen. Es ist aber lange her und Gras ist darüber gewachsen. Indessen will ich mein Recht über diese Tat haben, denn nunmehr ist die Stunde dazu gekommen, nachdem ich meinem Feinde und Überwältiger den Tort getan habe, den er verdiente, und dazu suche ich Ihren Rat und Beistand, weil Sie ein Schriftgelehrter sind und mir mitunter eine Gütigkeit erwiesen haben.«

Der klagende und sanfte Ton, womit der Patriotenkaspar dieses vorbrachte, flößte dem alten Schmitz Mut ein. Neugierig, wie er von Natur war, empfand er ein Verlangen nach den Dingen, die einen Menschen bewegen konnten, über einen verschollenen Frevel zum Ankläger wider sich zu werden. Der Patriotenkaspar schwieg aber, senkte seinen Blick und schien eine Aufmunterung erwarten zu wollen. Endlich sagte der Sammler: »Ich habe wohl vor Jahren davon gehört, daß ein[678] Sohn des Hofschulzen plötzlich zu Tode gekommen sei; es hieß aber damals, er sei mit der Stirn auf einen Stein geschlagen.«

»Ja, so hieß es damals«, versetzte der Patriotenkaspar. »Mit der Stirn schlug er allerdings auf einen Stein, und zwar auf diesen da, neben welchem ich stehe, allein nicht von selbst, sondern von einem anderen mit der Faust gegen den Stein gestoßen, und wer ihn so lange mit der Faust gegen den Stein stieß, bis die Hirnschale zerbarst, das war ich.«

»Also hatte doch jenes zweite alte Gerücht, was auch im stillen hie und da umherlief, recht!« sagte der Sammler. »Aber wie kam es, daß die Geschichte nicht angezeigt und den Gerichten überwiesen wurde?«

»Das hängt mit diesem meinem ausgeschlagenen Auge, mit des Hofschulzen seinem Hochmut und mit dem Freistuhl da droben an jenem Berge zusammen«, sagte der Spielmann.

Der Sammler versetzte: »Bringt Eure Geschichte ordentlich und im Zusammenhange vor, Kaspar. Denn aus diesen zerstückelten Reden kann sich niemand vernehmen.«

Der Patriotenkaspar erzählte hierauf an dem Mordsteine stehend, dem alten Schmitz, welcher ihm gegenüber an der anderen Seite des Kreuzweges stehenblieb, folgendes:

»Herr Schmitz, in den Geschichten, die ich da auf meinem Leierkasten feilhabe, kommen mitunter auch Sachen vor von Leuten, die ihresgleichen ächteten und von sich ausstießen. Als zum Beispiel: einen trieben sie vor diesem aus, weil er gar zu gerecht war, und ein General wurde zu alten Zeiten verbannt, weil sie ihm nachsagten, er mache den armen Leuten das Brot teuer, und dann gab es auch wieder einmal einen Herzog, der geächtet wurde, weil er seinen Freund nicht hatte verlassen wollen. Diese armen elendigen Verbannten führten ein jämmerliches Leben. Meistenteils ist zwar dergleichen nur bei großen Herren und vornehmen Standespersonen vorgekommen, aber auch unter dem Bauerstande kann sich die Sache zutragen, und mit mir hat sie sich begeben.

Herr Schmitz, ich war zu meiner Zeit ein flinker, anstelliger Kerl und hatte mehr Witz als aller der Bauerpöbel hier herum zusammengenommen. Sah auch recht gut aus –«[679]

»Ei«, fiel der Sammler ein, »Ihr habt ja stets eine hohe Schulter gehabt, Kaspar.«

»Das tut nichts«, erwiderte der Patriotenkaspar, »demohnerachtet kann man doch schön aussehen. – Sah also recht gut aus, ehe ich das eine Auge verlor und in die Hungersnot versank, hatte was erlebt draußen als junger Mensch. Denn, wie Sie wissen, war ich dabei, als die alte Orange in Schoonhoven vermolestiert wurde und kam auch nach Gorkum und Nieuwpoort mit den Patrioten dazumal. Ich schor mich den Teufel um den Krimskrams hier unter den Bauerkerls, sagt' ihnen oft die Wahrheit über ihre Einfalt und es setzte schon gleich zu Anfang viel Streit und Wortwechselung mit ihnen. Es gab nie keinen Vertrag mit ihnen recht, denn sie konnten es mir nicht verzeihen, daß ich klüger war als sie und gewitzter. Also gut; wie ich meine vollen Jahre erreicht hatte, trat ich das Kolonat an, denn Sie müssen wissen, daß der Windkotten uns gehörte, mir und meiner Familie; ein recht hübsches Erb mit Feld, Baumgarten und Wiesenwachs, was nachgehends freilich parzelliert worden ist, und das Haus hat der Jude abbrechen lassen, der das Ganze zuletzt kaufte, so daß ich selbst kaum noch weiß, wo die Stätte gelegen hat.

Wie ich nun so Kolon und Hofesbesitzer war, da ging der rechte Verdruß erst an, Herr Schmitz. Denn ich konnte es gar nicht vertragen, daß die Großen besser sein wollten, als wir Kleinen, und daß so ein Hofschulze es wie eine Gnade ansah, wenn er mit einem Kötter trank. Denn ich dachte: Ich baue so gut mein Feld, wie ihr, was habt ihr denn also voraus? Ich setzte mich also dreist zu ihnen, wenn ich im Kruge mit ihnen zusammentraf, ich sprach bei ihnen ungefordert ein. Wenn ich an einem der Großen vorüberging, tat ich so als müsse er mich zuerst grüßen, und meinte, es wohl mit ihnen durchsetzen zu können. Aber, Herr Schmitz, man setzt dergleichen mit den Menschen nicht durch, denn man ist immer nur einer und sie sind viele, und das hält zusammen wie Pech und Schwefel. Grob behandelten sie mich, wenn ich sie besuchte, im Kruge rückten sie von mir weg, und wollte ich von ihnen auf Landstraße und Nachbarweg zuerst gegrüßt sein, so lachten sie mir unter die Nase und keiner lupfte den Hut. Von allen aber war[680] der Hofschulze im Oberhofe der Gröbste und Stolzeste und Schlimmste; denn er ist immer unmenschlich reich gewesen und hat großes Ansehen von jeher gehabt.

Also, Herr Schmitz, den Hofschulzen nahm ich mir apart aufs Korn und dachte: Du sollst mir daran glauben. – Er hatte aber eine Tochter aus erster Ehe, denn drei Frauen hat der alte Kerl begraben lassen und zum letztenmal, woraus nun die ist, die gestern Hochzeit machte, freite er, wie er schon ziemlich in den Jahren war. Die Tochter sah recht gut aus, und ich war ihr auch recht gut, aber die Hauptsache, daß ich mich an sie machte, war doch der Stolz, und weil ich mir einbildete, ich könne alles durchsetzen, was ich wolle, und werde das Mädchen schon 'rumkriegen, wenn ich es nur recht anzufangen wisse. Ich hatte schon gemerkt, daß sie auf Tänzen und Kindelbieren nach mir hinhörte, wenn ich so erzählte von meinen Fahrten, und darauf baute ich meinen Ratschlag und sah sie unaufhörlich starr an, wenn ich ihr nahe kam, so daß sie nicht wußte, wo sie die Augen lassen sollte. Fing auch an, mich über mein Vermögen schön zu kleiden, das beste lichtblaue Tuch mußte ich zum Rocke haben und ließ mir an die Jacken silberne Knöpfe setzen, die kein anderer von den Kolonen hatte, wodurch ich in Schulden geriet. Eines Sonntages geht die Magdalis an mir vorüber, wie ich besonders herausgeputzt war und sagt: ›Ihr zieht Euch doch an, wie keiner sonst, Kaspar.‹ – ›Das geschieht ganz allein um Euch, Magdalis‹, antwortete ich, ›und wenn ich all mein Hab und Gut zusetzte, so wollte ich mich noch schöner kleiden, wofern es Euch nur gefiele.‹ – Sie wurde rot und damit hatte ich sie weg. Denn wenn man den Mädchen sagt, daß man um ihretwillen einen neuen Rock angezogen hat, so sind sie kaputt.

Also die Sache kam in Gang und ich will Sie damit nicht aufhalten, Herr Schmitz. Genug, die Magdalis gab zu, daß ich an ihr karessieren durft', und war alles bald zwischen uns in Richtigkeit, wie es die Ordnung ist unter Liebesleuten. Auch die Magdalis dacht' in ihrer Dummheit, daß der Vater, weil es einmal so weit gekommen, werd' ein Auge zudrücken müssen. Deshalb nahmen wir beiden Gimpel die Absprache zusammen, daß ich um sie anhalten solle. – Aber – da kam ich schön[681] an, Herr Schmitz, wie ich die Sache vortrug bei dem Alten. Denn selbst mußte ich sie vortragen; ein Freiwerber wollte sich dazu nicht verstehen. In meinem Leben ist mir kein grimmigerer Mensch vorgekommen, als der Hofschulze, wie er sich benahm, da ich meinen Spruch herausgesagt hatte. Ich wurde mit einem solchen Zorn und Hohn angelassen, daß mir die Knochen bebten vor Ärgernis. Es fehlte nur, daß er mich fortpeitschen ließ, und noch heut am Tage weiß ich nicht, wie ich vom Hofe gekommen bin.

Gut, dachte ich, willst du sie mir nicht zur Frau geben, so soll sie – – Der Alte hielt sie eingesperrt und sein Sohn, der Fritze, auch aus der ersten Ehe, paßte mir auf. Aber man kann die Leute schon belauern, wenn man nur will. Was nicht bei Tage geht, das geht bei Nacht, und darf man nicht zur Tür 'rein, so steigt man über die Mauer. Ich war denn also alle Nächte, die Gott werden ließ, bei der Magdalis, zu der ich durch das Fenster gelangte. – Doch sie kamen dahinter, Herr Schmitz, der Alte und sein Sohn. Und nun machten sie zusammen einen Plan auf mich, mir aufzulauern und mir das Leben zu nehmen.«

»Das ist nicht wahr«, unterbrach hier eifrig der alte Schmitz die Erzählung. »Der Hofschulze ist ein eigensinniger Mann, aber Schlechtigkeiten hat er nie getrieben.«

»Nun dann hat es der Junge, der Fritze, auf seine eigene Hand getan«, sagte der Patriotenkaspar. »Genug, ich weiß, was ich weg gekriegt habe bei der Gelegenheit. Also, Herr Schmitz, eines Abends, wo es ganz dunkel war und ein schweres Unwetter heraufzog, komme ich auch von meinem Erb da herüber meinen gewöhnlichen Weg geschritten. So höre ich da, wo Sie jetzt stehen, Herr Schmitz, etwas rascheln in der Dunkelheit, und ehe ich noch meine Gedanken zusammennehmen kann, springt das, ohne einen Laut von sich zu geben, auf mich zu, und ich habe einen Schlag mit einem Knüppel über den Kopf und einen Stoß in das linke Auge weg, daß mir beinahe Hören und Sehen vergeht. Im Auge ist's mir, als ob ein Dutzend Messer darin umgedreht würden, Nasses läuft mir über die Backe – ich aber denke, hier geht's noch um Haut und Haar, ist's Auge schon weg – und kriege meinen Kujon zu packen,[682] und reiße ihm den Knüppel weg, denn, Herr Schmitz, ein Mensch, dem sie das Auge ausschlagen, hat fürchterliche Kräfte – und gebe ihm die Erwiderung auf seinen Schädel, daß er aufgrölzt und ich an der Stimme den Fritze erkenne. Er bettelt um Gnade, aber ich schreie: ›Meine Gnade sollst du gleich spüren!‹ reiße ihn in die Höhe; ›du verfluchtiger Augenmörder!‹ rufe ich, und stoße so lange den Bengel mit dem Kopf gegen den Stein hier, bis er stumm wird. Einen Ohrring hatte ich ihm bei der Balgerei abgerissen (denn er trug welche) den hielt ich in der Hand, wußte nicht, was damit anfangen, konnte ihn freilich nur wegwerfen, aber der Mensch ist bei solcher Gelegenheit wie von sich; unter dem Stein habe ich den Ring verscharrt, soll mich wundern, ob er noch da liegt?«

Der Patriotenkaspar, welcher den letzten Teil der Erzählung mit so lebendigen Gebärden vorgebracht hatte, daß seinem alten Zuhörer ein Schauder über die Haut rieselte, wälzte trotz seiner anscheinenden Kraftlosigkeit den Stein hinweg, kratzte etwas in der Erde darunter und zog mit einem gellenden Freudenschrei, als habe er den köstlichsten Schatz entdeckt, einen Ohrring hervor, der nicht verrostet war, weil er stark vergoldet gewesen sein mochte. »Ei, wie so ein Ding übrigbleibt, wenn der Mensch längst verrottet ist!« rief er, und gab den Ring dem alten Schmitz, der ihn nur zagend annahm.

»Als ich nun dem Fritze das Seinige gereicht hatte, ließ ich ihn liegen und ging nach Hause, Herr Schmitz«, fuhr der Patriotenkaspar fort. – »Es war nun starkes Unwetter geworden und bei dem Donnern und Blitzen unterweges wurde mir graulich zumute. Ich dachte: Die Magdalis erwartet dich in ihrer Kammer, und ihr Bruder liegt da tot am Kreuzweg, und der Hofschulze schläft und läßt sich nichts träumen, und du gehst über das Stoppelfeld. – Zu Hause nahm freilich der greuliche Schmerz im Auge alle meine Besinnung weg, und nur unterweilen konnte ich mir vorstellen, daß sie mir nun vielleicht den Kopf abschlagen würden. Es kam aber alles ganz anders, Herr Schmitz.

Den anderen Tag ließ ich den Feldscherer holen, und der sagte mir, daß das Auge heidi sei, denn mit uns Bauersleuten machen die Doktors nicht viele Umstände. Na, das Auge lief[683] auch wirklich aus, Herr Schmitz, und schrumpfte weg, und ich erwartete alle Tage die Gerichte im Erb, die mich abholen würden, denn fliehen mochte ich nicht. Aber keine Gerichte kamen.

Dagegen kam ein Kerl, der der Fronbot hieß, von wegen des Dings droben unter den drei Linden, und sagte, ich sei geheischen und geladen zum Stuhl, sie wollten's unter sich abmachen, und ich sollt' Rede und Antwort stehen. Ich rief: Er sollte sich zum Teufel scheren, sie könnten mir dies und das tun, dem Amtmann sei ich Rede und Antwort schuldig.

Wie ich nun zum ersten Male den Kopf wieder aus dem Loch hervorstrecke, höre ich kuriose Geschichten. Der Alte hat seinen Sohn gleich nachdem die Leiche gefunden worden, begraben lassen und überall gesagt, der Junge sei spät nach Hause gegangen und habe einen bösen Fall getan. Keine Anzeige hat er gemacht und alles bleibt still von der Sache, und kein Amtmann und kein Kriminal bekümmert sich um mich. Ja, was soll das bedeuten? denke ich.

Ich konnte es aber bald spüren, Herr Schmitz. Es war mir schon auffällig gewesen, daß während meiner Wehtage nicht eine Menschenseele nach mir fragte, denn wenn ich auch nicht viele Freunde hatte, so besuchte mich doch je zuweilen sonst einer oder der andere. Aber da saß ich ganz allein und verlassen, und zuweilen tat mich nicht nur meine wunde Augenhöhle schmerzen, sondern ich heulte auch mit dem gesunden Auge meine bitteren Tränen. Als ich nun wieder 'naus ging, so wollte ich, weil ich nicht verfolgt wurde, bei einem Nachbar vorsprechen, aber der schob zur Hintertüre hinaus, als ich in die Vordertüre trat. Im Kruge rückten sie zischelnd zusammen, als ich kam und riefen den Wirt beiseite und sprachen sacht mit ihm und der kam dann zu mir und sagte: ›Kaspar, Ihr könnt nicht verlangen, daß ich um Euretwillen meine Nahrung einbüße. Sie wollen nicht mehr bei mir sitzen, wenn ich Euch zapfe.‹ – ›Nicht mehr bei Euch sitzen?‹ fragte ich wild. – ›Still!‹ rief er. ›Ich will's Euch heute abend offenbaren, Ihr habt mir manchen Taler zu verdienen gegeben, und darum kann ich Euch den Gefallen wohl tun. Kommt heute abend, wenn alles zur Ruhe ist, her, da sag' ich's Euch.‹[684]

So ging ich denn den Abend, wie Polizeistunde geboten war, und niemand mehr in der Stube saß, zu ihm. Und da erzählte er mir, daß der Hofschulze über den Tod seines Jungen mit den anderen zusammengewesen sei droben am Freistuhl, und habe gesagt, er wolle keine Anzeige wider mich machen, und keiner solle es tun, aber er habe mich mit seinem Schwert von Carolus Magnus verfeimt und geächtet, und die Sache sei schon durch die Bauerschaft und weil die Großen drin einig seien, so seien die Kleinen auch nicht dawider und sei ich also nun aus dem Frieden und aus der Freundschaft gesetzt bei allen.

Ich lachte und rief: ›Was scher' ich mich um euren Frieden und um eure Freundschaft!‹ – Aber ich hatte übel gelacht, Herr Schmitz. Keine Anzeige kam wider mich bei den Gerichten ein, was damals leicht möglich war, denn der große Krieg war eben im Gange, und alles lief bunt über Eck, und als es wieder ruhig worden, war die Sache schon alt; jedoch ein Verfeimter war ich und ein Verfeimter blieb ich, und das war böser als Verhör und Urteil. Herr Schmitz, das Menschenkind kann alles ausstehen, Not und Krankheit und Feuersbrunst und Gewaltzwang, aber von seinesgleichen verstoßen sein, das kann das Menschenkind nicht ausstehen. Denn der Vogel fliegt mit seinesgleichen, und der Hirsch geht in Rudeln und der Fisch im Wasser schwimmt selbzwanzig dahin und dorthin, selbst der Wolken wandern immer mehrere zusammen, wie sollte das Menschenkind es allein bestehen können? – Sie hielten 's, was sie oben am Freistuhl ausgemacht. Und die Kleinen mußten's ihnen nachtun. Wenn ich mir Stroh und Korn borgen wollte, wie der Fall sein kann in jeder Wirtschaft, kriegte ich nichts; einmal brannte meine Scheune, die ließen sie brennen und kamen mit der Spritze, als nur noch die Trümmer rauchten, und wenn sie an meinem Erb' vorbeigingen, so greinten sie höhnisch und spuckten aus, und wenn ich selbst zu ihnen trat, so wiesen sie mir den Rücken. – Das fraß mir ins Herz hinein und ich sagte: ›Ich will's euch allen zuvor tun, daß ihr Seelenverkäufer die Kränke vor Ärger kriegt und will mir Gesellschaft und Kameraden aus der Stadt halten.‹ Zechte also brav auf meine eigene Faust, ließ mich mit Menschen in der Stadt ein, Schreibergehülfen und Ladenburschen und so dergleichen,[685] gab denen große Traktamente auf dem Erb. Aber es wollte mir dergestalt nicht schmecken, Herr Schmitz, und wenn ich noch so viele lustige Schreibergehülfen und Ladenburschen bei mir hatte, so würgte es mir in der Kehle, weil ich immer dachte: Sie sind doch nicht deinesgleichen. Natürlich geriet ich auch durch die Lebensart tief in die Schulden hinein; auf einmal kam mir nun der Jude, der mir vorgeschossen hatte, über den Hals und ließ mir das Erb anschlagen. Ich wurde herunter gepfändet und hatte dann die Erde zum Lager und den Himmel zum Dach. Und so bin ich denn nach und nach, Herr Schmitz, zu dem Leierkasten, in diese Lumpen, in den Hunger und in die Kälte geraten, und so ein räudiger Bettelhund geworden, wie Sie mich da sehen.«

Der arme und jämmerliche Mensch sah nach dieser Erzählung mit dem Blicke eines so kalten und bodenlosen Elendes vor sich hin, daß es den alten Schmitz, der von Natur weichherzig war, erbarmte. Er begriff nun wohl, daß er von dem unglücklichen Mörder nichts zu befürchten habe, trat ihm daher näher und sagte: »Ich fasse noch nicht recht den Grund, weshalb der Hofschulze Euch den Gerichten entzog, denn, wenn ich auch sonst wohl einsehen kann, warum er mit seinem Freigerichte hantiert, so hätte ihm in diesem Falle Eure öffentliche Verurteilung doch eine größere Genugtuung gegeben.«

»Oh«, rief der Patriotenkaspar, »das ist eben die ausbündige Bosheit des alten Blutsaugers!« – Er raufte seine buschichten Augenbraunen. – »Denn wie ich nachgehends gehört habe, so sind Zeugen gewesen, zu denen der Bengel, der Fritze, sich berühmend gesagt hatte, er wolle mir an dem Abende auflauern. Nun war der dicke Knüppel neben dem Toten gefunden worden und mein Auge war doch auch weg, also folglich konnte ich mich auf Notwehr berufen, und den Kopf hätten sie mir nicht 'runter gehauen, sondern ich wäre vermutlich mit etwas Gefängnis davongekommen. Das sah der alte Satan voraus und deshalb wollte er mich auf seine eigene Hand für zeitlebens unglücklich machen. Ich habe aber auch eine Wut auf ihn gehabt die Jahre her bei meinem Leierkasten, Herr Schmitz, ich kann Ihnen nicht sagen, was für eine Wut. Und lange konnte ich ihm nicht beikommen, aber nun – –«[686]

»Pfui«, sagte der alte Schmitz. »Schämt Euch, Kaspar, wer wollte so rachgierig sein!«

Der Patriotenkaspar stürzte seinem Gönner zu Füßen, umschlang die Kniee des alten Mannes mit seinen hageren und haarichten Fäusten, als wollte er ihn um Verzeihung für seine Sinnesart bitten und rief mit hohlem zerreißendem Tone: »O Herr Schmitz! Rachgierig muß der Mensch sein, wenn sie ihm alles genommen haben, sonst verkommt er gar. Ich wäre längst verhungert, aber ich fraß meine Rache, und so blieb ich leben. Es steht wohl geschrieben: ›Segnet, die euch fluchen‹, aber es gibt keinen, keinen auf Erden, für den es geschrieben steht, zum wenigsten keinen Unglücklichen.«

»Nun, und was soll ich mit dieser ganzen sonderbaren Geschichte anfangen? Was treibt Euch, sie gerade mir und jetzt zu erzählen?« fragte der Sammler.

Der Patriotenkaspar erhob sich und sagte: »Herr Schmitz, ich will nun mein Recht haben. Ich habe mein Herze befriedigt und nun will ich mein Recht desgleichen haben. Ich will nicht länger unter dem Banne von meinesgleichen leben, sondern mein Urteil haben vor den Gerichten des Königs. Ihnen habe ich die Sache erzählt, weil Sie sich doch auch auf Amtssachen verstehen, damit Sie ein hübsches und richtiges Protokoll aufnehmen, worin alles gehörig steht von Notwehr und von den Zeugen, denen der Fritze gesagt hat, er wolle mir auflauern (denn es leben ihrer noch einige), damit mir nicht der Kopf abgehauen wird. Dazu habe ich keine Lust, aber sitzen will ich ein paar Jahre recht gerne. Im Gefängnis betrage ich mich ordentlich, mache mir Überverdienst, komme mit einem guten Attestat vom Direktor zurück, lege von meiner Sparsumme einen Winkelkramladen an, und dann soll das Donnerwetter dem in die Eingeweide fahren, der mich noch ferner hoch necken oder verachten will!

Also, Herr Schmitz, tun Sie mir die Gefälligkeit, das Protokoll zu schreiben, ich will dann drei Kreuze darunter setzen und es selbst in die Gerichte tragen.«

Der Sammler ließ sich das Jahr, worin die Mordtat vorgefallen war, nennen. Er dachte nach und sagte dann: »Kaspar, das Protokoll würde keinen Erfolg haben. Die Sache ist verjährt.«[687]

»Was heißt das: Verjährt?«

»Das heißt: Ihr mögt über die Sache angegeben werden, oder Euch selbst angeben, ja, Ihr mögt, wie Ihr tut, die Strafe begehren, so wird dem keine Statt gegeben, denn nach dem Ablaufe von dreißig Jahren ist eine Untat ab und tot vor dem Richter. Ihr müßt also Euer Geschick schon so nehmen, wie es einmal liegt und es bis an Euer Lebensende tragen.«

Er ging an dem Totschläger vorüber, gab ihm den silbernen Ring, da dieser bei näherer Betrachtung ihm nichts Merkwürdiges gezeigt hatte, zurück und entfernte sich. Der Geächtete stand betroffen, sann über die Verjährung und konnte darin durchaus keinen Sinn finden. »Also«, sagte er endlich, »meine Gedanken an die Missetat muß ich behalten und bis in jene Ewigkeit mit hinüberschleppen; aber wenn ich mit meinem Fell die Sache büßen will, so geht das nicht mehr an, weil dreißig Jahre vorüber sind!« –

Ein Lärmen, der ganz in der Nähe entstand, unterbrach sein Nachsinnen und machte ihn aufmerksam. Kaum zwanzig Schritte vom Kreuzwege kamen auf dem Wege vom Oberhofe Menschen gelaufen und andere begegneten ihnen, die vom Hofe des Eidams gegangen kamen. – »Wißt ihr's schon?« fragten die vom Oberhofe überlaut. – »Was denn?« versetzten die anderen. Ihren Weg eiligst nach dem Jürgenserbe fortsetzend, riefen die vom Oberhofe: »Der Hofschulze hat eine Überfahrung12

»Das wäre der Henker!« riefen die ersten und liefen nach dem Oberhofe zu.

Der Patriotenkaspar fletschte die Zähne, sprang wie unsinnig auf dem Mordplatze umher und schrie: »Heisa! Heisa! So ist's recht. Die Tochter machte ich dir zur Hur', den Jungen zu Brei, und dich macht' ich nun zunicht'! Ihr sollt erfahren, was es heißt, geringere Leute verachten! Könnt' ich jetzt mein Protokoll aufgenommen kriegen, wäre ich ganz zufrieden!«[688]

12

Anfall von Schlagfluß.

Quelle:
Karl Immermann: Werke. Herausgegeben von Benno von Wiese, Band 3, Frankfurt a.M., Wiesbaden 1971–1977, S. 676-689.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Münchhausen
Münchhausen: Eine Geschichte in Arabesken
Münchhausen. Eine Geschichte in Arabesken
Der Oberhof: Aus Immermanns Münchhausen
Münchhausen. Eine Geschichte in Arabesken
Münchhausen: Eine Geschichte in Arabesken, Volumes 1-2 (German Edition)

Buchempfehlung

L'Arronge, Adolph

Hasemann's Töchter. Volksstück in 4 Akten

Hasemann's Töchter. Volksstück in 4 Akten

Als leichte Unterhaltung verhohlene Gesellschaftskritik

78 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon