Eduard Allwill an Luzia

[546] Ihr langes Sendschreiben, gute Luzia, hab ich soeben zum drittenmal wieder gelesen; habe alles beiseite geworfen, und[546] sitze Ihnen nun da auf meinem Stuhl so fest, als wenn der kleine Schreibtisch hier die ungeheure runde Tafel in unserm Ratssaal wäre; und Sie, mein teures Fräulein! wären das landesherrliche Portrait unter dem grünen goldbefranzten Baldachin; aber wohl zu merken, daß Sie nur insofern das Portrait Ihro – – –, titulo pleno, vorstellen, als mein trautes Tischlein hier die verwünschte ungeheure runde Tafel in dem Ratssaal vorstellt; und daß die ganze Vergleichung sich einzig und allein auf mein festes Sitzen gründet. – Närrisch genug mit allem dem, daß ich so ganz von ohngefähr, und ohne alles Arge, Sie in das Bildnis eines gepanzerten Erdengottes verwandelte; denn in der Tat, liebe Luzie, jüngst, als Du mit aller Weisheit Himmels und der Erde vor mich tratest, sah ich Dich würklich von der Scheitel bis zu den Sohlen in schön gebläutem Stahl – mächtig erhaben auf den Zehen des linken Fußes; das andre Bein künstlich von der Erde geschwungen; empor die heilige Rechte, das Haupt mit einem Lorbeerzweig zu beschatten; und Dein ganzes Wesen begriffen – in der Verdauung der göttlichen Eule, welche Du soeben roh und ungepflückt hinuntergeschluckt hattest. Gewiß hattest Du neulich meine geringe Person unter einer nicht viel weniger veredelten Gestalt erblickt; als da wär eine unermeßliche Perücke über meinem trotzigen Haarzopf, die mir dicke Schweißtropfen aus der Stirne preßte; zween Seraphimsflügel an den Schultern, deren ich mich statt zweener Fächer zum Anwehen bediente; ebenfalls auf einem Bein stehend, fest wie ein Fels. – O komm doch, komm, liebe Luzie! laß uns aufeinander zu hinken; dann her Deinen Helm, daß ich meine Perücke hineinlege; – und nun sieh: dies ist Eduards Nase, und jene Luziens; wir sind unter vier Augen; schwatzen wir miteinander, wie ich und Du!

Schade was, liebe Luzie! Schade was für unsere Weisheit, für alle die prächtigen Verwandlungen, worüber wir uns so hoch zu gratulieren pflegen; gemeiniglich hat es am Ende so viel damit zu sagen, daß – wir uns schämen müssen. Man schwitzt im Sommer, und friert im Winter: im ersten Fall kleidet man sich in Taft, und im letzten in Pelz; das ist meist die ganze Geschichte. Sie wissen, was die Ptolomäische Epizykloide für ein Ding ist (sonst kann Wallberg Sie daran erinnern): Auf-, Ab- und Durcheinanderschwingungen ohne Ende; doch nur ein Mittelpunkt, und der Planet tritt immer wieder in die Grenzen seines Zirkuls zurück. Es liegt mir noch klar genug im Gedächtnis, wie ich ehmals, bei jedweder merkwürdigen Sinnesändrung,[547] mich nun endlich zur wahren Weisheit bekehrt, und den einzigen Weg zur Glückseligkeit betreten zu haben glaubte, dann vor Entsetzen und Scham verging, daß ich nur vor so wenig Tagen – oft vor nur so wenigen Stunden, noch ein so unbegreiflicher Tor hatte sein können. Aber, o Tyrannei des Schicksals! bald darauf kam mein unbegreiflicher Tor wieder ganz stattlich, als der weiseste Mann, ans Licht, und schämte sich seines Vorfahrs nicht weniger, als dieser vor kurzem seiner sich geschämt hatte.

Ein Schelm tut mehr, als er kann, sagt ein altes teutsches Sprüchwort. Es ließ sich ein schönes dickes Buch hierüber schreiben, und es soll mein erstes sein, wenn ich je eins mache. Ein feuriger, geistvoller Jüngling, der ein Epiktet sein will, will mehr als er kann, und muß schlechterdings dabei zum Schelm werden. Wie kann er alles Gute, alles Schöne mit Entzücken lieben, und so genaue Maß halten, und nie irregehen? Wie kann er schon wissen, was jene Freude zur Torheit macht? Euch euren Überdruß, euren Ekel, eure Mattigkeit nachfühlen, liebe Graubärte? Wie kann sein Mut sich vor euren Furchten entsetzen? Er, der dem Schmerze trotzt, und dem Tode, und nur Lust wittert. Kurz, euern innern Sinn könnt ihr ihm nicht geben; und so hättet ihr ihm, wenn er euch hörte, vollends allen Genuß des Lebens geraubt. In seinem Kopf, wenn er ein bißchen eigenes Wesen hat, muß eure Vernunft zum ärgsten Unverstande werden; höchstens kann sie durch Schreckbilder einige Schwermut in seine Einbildungskraft staffieren. Ihre Stimme tönt alsdann seinem Ohr, wie ein verdrießliches Gegrein, und macht ihm Weh. Sie heißt ihn die ärgsten Qualen unaufhörlich leiden, damit ihm nur ja kein Leid widerfahre.

Um die Lehren der Weisheit zu verstehen, um sie annehmlich zu fühlen, muß die Seele sich in einem Zustande von Gleichgewicht befinden, müssen ihre lebhaftesten Begierden – eingeschläfert sein; welches soviel gesagt ist, als, sie muß außer Stande, oder doch wenigstens außer der Lage sein irgend eine entzückende Freude zu empfinden. – Hole der Henker einen solchen Zustand für jeden wackern Jungen! Genießen und Leiden ist die Bestimmung des Menschen. Der Feige nur läßt sich durch Drohungen abhalten, seine Wünsche zu verfolgen; der Herzhafte spottet des; ruft Liebe bis in den Tod! und weiß sein Schicksal zu ertragen.

Es ist die hohlste Idee von der Welt, daß die bloße Vernunft die Basis unsrer Handlungen sein könne. Das Ding Vernunft,[548] woher hat es sein Wesen? Ist es mehr als helleres Bewußtsein durch zartere Sinnlichkeit hervorgebracht? In seinem ganzen Umfange genommen, und zu einem besondern Dinge abstrahiert, mehr als System unsrer Empfindungen und Neigungen? Am Ende ist es doch allein die Empfindung, das Herz, was uns bewegt, uns bestimmt, Leben gibt und Tat, Richtung und Kraft.

Nur ein Preßwerk, ihm das Blut durch die Adern zu sprützen, kein Herz muß derjenige im Busen tragen, der sich zu einer fortdaurenden Gemütsruhe stimmen, und darin die Erfüllung seiner Wünsche schmecken kann. – Und der sollte glücklich sein – glücklich vor allen? Es gibt der Feigen genug, die vor jedem Zufall beben, und doch fast keinen unter ihnen, selbst unter Betagten, der in eure Freistätten flüchtete; alle wagen immer von neuem ihre Haut, um der Freuden mehr zu haschen, um die Fülle ihres Lebens zu genießen. So schuf den Menschen Gott, und es ist doch wohl ein bißchen unsinnig, zu behaupten, er wäre besser, wenn er wäre, wie Gott ihn nicht haben wollte. – – Glaube mir, holde Liebe, das beste ist, wir bleiben eines Sinnes mit Natur. Ihr Wesen ist Unschuld, und wenn wir annehmen, was sie uns nach Zeit und Umständen in die Ohren raunt, werden wir uns so wohl befinden, als jemand unter dem Monde. Wir brauchen starke Gefühle, lebhafte Bewegungen, Leidenschaften. Was man gewöhnlich mit einem vernünftigen klugen Wandel meint, ist eine erkünstelte Sache; und der Seelenzustand, den sie voraussetzt, ist zuverlässig derjenige, der am wenigsten Wahrheit in sich faßt. – Nimm, einer wollte ein Haus von so künstlicher Einrichtung bauen, daß, wenn er sein Licht unter dem Dache aufsteckte, das ganze Haus davon erleuchtet wäre. Es kann geschehen, wenn er den Tacht ausspreitet und wohl auflockert, daß etwas Schimmer durch das ganze Gebäude dringe; aber welche arme verwirrende Dämmerung! lieber gewöhnte ich mich im Dunkeln zu hantieren. Indessen mag's hingehen für eine Kuriosität: sonst wird doch jeder Verständige allemal lieber sein Licht dahin tragen, wo er gegenwärtig zu sehen braucht, und es in Gottes Namen finster sein lassen, wo er nichts zu schaffen hat.

Ich soll mich um feste Grundsätze bemühen, damit ich zu unwandelbarer Tugend gelange. Nun klingt es mir geradeso, wenn mir jemand vorschlägt aus Grundsätzen tugendhaft zu werden, als wenn mir einer vorschlüge, mich aus Grundsätzen zu verlieben. Ein Verliebter – nicht aus Empfindung, sondern aus[549] Grundsätzen, wäre freilich wohl sehr treu. Und ebenso würde der Herzhafte, der Großmütige, der Wohlwollende, der es nicht aus leidigem Triebe wäre, der der Empfindung dazu entbehren könnte, nicht nur zu allen Zeiten herzhaft, großmütig, wohlwollend sein, sondern auch in jedem besondern Falle so sehr, und so nicht-sehr, als er müßte. – Mit dem Unsinn! Ich weiß ja das alles; bin ja mehr als einer gehütet worden irgend zu wissen – was ich wollte; zu empfinden – was ich empfand; strenge angewiesen wie ich etwas schön und gut, und nur dies etwas so finden müsse; ausgestopft mit erkünsteltem, erzwungenem Glauben; verwirrt in meinem ganzen Wesen durch gewaltsame Verknüpfung unzusammenhängender Ideen; hingewiesen, hingestoßen zu einer durchaus schiefen, ganz erlogenen Existenz.

Dennoch wurde mir viel von meiner Beilage bewahrt, und darum weiß ich, an wen ich glaube. Der einzigen Stimme meines Herzens horch ich. Diese zu vernehmen, zu unterscheiden, zu verstehen, heißt mir Weisheit; ihr mutig zu folgen, Tugend. So ward mir Eigenheit, Freiheit – Fülle des Lebens; und, o wieviel köstlicher das, als die Behaglichkeit der Ruhe, der Sicherheit; als der Friede des Heiligen sogar!

Noch mit jedem Tage wird der Glaube an mein Herz mächtiger in mir, daß ich wohl gar auf dringende Veranlassung des Moments meinen eigenen tief empfundenen Vorschriften zuwiderhandle. – Schrei nicht über Gefahr, liebe Luzie! Was geht uns das an, daß der Ruchlose ohngefähr ebendas tut, und so immer ruchloser wird? Jedes Wesen ersprießt in seiner eigenen Natur: wird nicht auch die schöne Seele, aus eigenem Keim, sich immer schöner bilden? Was ist zuverlässiger, als das Herz des edel Gebornen? – – Nimm alle Moralen, alle Philosophien des Lebens zusammen, und versuche streng nach ihren Vorschriften zu wandeln: wenn Du wahres Gefühl von Schönheit und Vortrefflichkeit hast, auf wieviel Ausnahmen wirst Du stoßen? Willst Du nun, aus Furcht zu verirren, keine solche Ausnahme gelten lassen: wie muß da nicht endlich Dein Herz und Verstand sich verstocken, Dein Geist zu jedweder freien Bestrebung unfähig werden?

Nehmen Wir auch einen einzelnen Menschen, den empfindsamsten, stärksten; und lassen wir ihn, nach unzählig gemachten Erfahrungen, bloß für seine Person, mit dem freiesten Mut, eine Philosophie des Lebens entwerfen; er wird in der Folge abermals auf Ausnahmen stoßen; und fürchtet er sich diese zu gestatten,[550] so wird er nach und nach zu einer Art von Maschine, wiewohl zu einer vorzüglichen vor jenem andern, der in dem Rade noch allgemeinerer Vorschriften dreht. Allzuoft muß er sein gegenwärtiges Gefühl unterdrücken, ihm nicht glauben, nicht trauen wollen; folglich bloß nach dem Buchstaben handeln. Eludiert, verdreht er das Gesetz, so wird der Kerl ein Heuchler, ein Schurke; unterwirft er sich ihm redlich – so kommt er allmählich um Sinn und Gefühl – wird, je höher er die Fertigkeit seiner Tugend treibt, je kälter, geschmackloser; gehorcht immer nur (blindlings oder sehend – wie es kommt) seinem ehmaligen Willen, hat aber jetzt keinen eigenen Willen mehr; kann sich hinfüro nie weiter über sich selbst empor schwingen.

Wir wissen, daß, der allgemeinen Sicherheit wegen, jeder Richter nach dem dürren Buchstaben der Gesetze urteilen, und für jede andre Betrachtung blind sein muß; daher denn oft die abscheulichsten Untaten gerichtlich bestätiget werden, weil der Bösewicht nicht gegen den Buchstaben des Gesetzes gehandelt, und die Form der Prozedur zu seinem Schutz angewendet hatte: der gewissenhafte Richter konnte nicht anders, er mußte – war er auch der wärmste Menschenfreund – Verderben über den vervorteilten Rechtschaffenen aussprechen. Aber was für ein Mensch wäre dieser Richter, wenn er kein anderes, als dieses gesetzmäßige, öffentliche Gewissen hätte; wenn er den Verurteilten nun würklich für einen Verbrecher hielte; wenn er, falls es diesem Ehre und Leben gölte, und er ihn könnte heimlich entrinnen lassen, es nicht täte? – Und siehe, gerade solche Richter sind doch alle unsere unbeweglichen Sittenbesteller. Ich weiß nicht, wie fern ich ihnen aus dem Wege gehen möchte!

System der Glückseligkeit, so heißet, was sie uns lehren wollen – höchster Genuß der Menschheit; das wissen sie, was das ist – und für alle und für jedweden; wissen was alle können und jedweder; was alle müssen und wollen: haben im Auge jede Bestimmung, und in der Seele das Maß aller menschlichen Kraft.

Hochweise, hochgebietende Herren! wir sind nicht füreinander. Ich sing ein ganz anderes Lied, als wovon die Melodie auf die Walze eures heiligen moralischen Dudeldeis genagelt ist. Auch genießen wir ganz verschiedene Kost; können nicht an einem Tische miteinander sitzen; mein gesunder Verstand, meine gesunden Sinne gingen mir bei eurer Krankendiät Zuschanden. Deswegen überlaßt mich meiner guten Natur; welche verlangt,[551] daß ich jede Fähigkeit in mir erwachen, jede Kraft der Menschheit in mir rege werden lasse. Freilich drängt sich's da wohl einmal: aber die freie Bewegung hilft durch, paßt, sondert und vereinigt; und so immer leichter der Geist, immer mächtiger das Herz. – – Du hohnlächelst, weiser Mann? Was soll das lange Register meiner Vergehungen, meiner Torheiten? – Sag an, bin ich schlimmer, bin ich törichter geworden als ich war? – bin ich schlimmer, törichter, weniger glücklich, als du? – – Daß ich gestern den Himmel an den Kuß eines Mädchens wagte? – Armer Tropf! du hast weder einen Kuß, noch die Freuden des Himmels gekostet: Himmel und Ewigkeit sind schon lebendiger in meiner Seele als sie vorher waren: ich tat wohl! Und siehe, so sind alle meine Taten gut, oder ihre Folge wird's; denn durch alle meine Empfindungen weht der lebendige Atem der Natur, der vermehrende, ewig neugebärende. – Ja, fallen werde ich öfter, aber auch ebensooft wieder aufstehen, und herrlicher fortwandeln: sagte dir's nicht deine Amme, daß man nur durch Fallen gehen lernt? – O ihr doppelt gegliederten, ihr Krüppel in eurem Gängelwagen!

Es ist traurig anzusehen, wie manche gute Leute so ängstlich und emsig – ja zusehen, daß sie – nur ja nichts Böses, nur ja nichts Ungerechtes verursachen oder zulassen; und darüber in ihrem Trübsinn es nur zehnmal ärger anrichten, oft an unsäglichem Unheil schuld werden. Um nicht, pflichtwidrigermaßen, durch des abwesenden Nachbars verschlossene Tür einzubrechen, überließen sie euch wahrscheinlicher dringender Gefahr; als wohl, in desselben Garten von seinem ruchlosen Sohn ermordet zu werden; nun verlöre dieser arme Nachbar darüber Nährer, Helfer und Freund, und müßte seinen Sohn auf dem Rade sterben sehen: aber sie hätten dann doch kein Gesetz übertreten, hätten sich nichts vorzuwerfen, behielten ein reines Herz und ein gutes Gewissen.6

Es ließ sich auf alle Weise dartun, und durch eine Menge von Beispielen erläutern, daß in dem Begriff der entschiedensten Tugenden doch immer etwas Schwankendes bleibe, so daß zuweilen[552] der Mensch sich am vortrefflichsten zeigen könne, indem er ihnen schnurstracks entgegenhandelt. Ich kann mir Fälle gedenken, wo es das erhabenste Verdienst wäre – einen ewigen Stachel – aber das leitete mich in ein zu weites Feld. Nur noch ein Beispiel für was ich eben vorhin sagte.

Die erhabenste aller Tugenden, welche zugleich die allgemeinste Anwendung verträgt, die übrigen alle schützt, vermehrt, gebiert – ist wohl durchgängige Wahrhaftigkeit. Was für ein göttlicher Mensch müßte nicht aus einem werden, der sich entschlösse, immer wahr zu sein? Schon das würde notwendig zur Rechtschaffenheit leiten, wenn man den Vorsatz ausführte, nur keine Unwahrheit je zu sagen; so groß ist unsre Achtung für unsre Mitmenschen – so brennend der Spiegel, der unsre Gestalt aus ihnen in uns zurückwirft! Man erinnere sich irgendeines Vorfalls, wo man um eine Leidenschaft zu befriedigen, einen Betrug zu Hülfe genommen, und stelle sich nun vor, man hätte, anstatt heimlich zu Werke zu gehen, demjenigen, den man hintergangen, die nackende Wahrheit, sein eigentliches Vorhaben entdecken müssen – wie wird man nicht auffahren und erblassen von dem bloßen Gedanken! – Leichtsinn, in Absicht der Wahrheit, ist Sohn und Vater des Lasters, sein Helm und Schwert, und schon die kleinste Lüge eins der ärgsten Verbrechen gegen uns selbst, gegen die Menschheit. – Aber wer könnte zu unsern Zeiten den unüberlegten Entschluß fassen, nie eine Unwahrheit sagen zu wollen? Und hat es nicht zu allen Zeiten Fälle gegeben, wo es Trieb der erhabensten Menschheit, wo es Eingebung Gottes war zu lügen? – »Oh, wer hat diese entsetzliche Tat getan?« – »Niemand«, antwortet Desdemona; »ich selbst, lebe wohl; bringe meinem gütigen Gemahl meinen letzten Gruß; o lebe wohl!« – Othello ruft: »Sie ist als eine Lügnerin zur Hölle gefahren; ich war's, der sie ermordete. «- Aber, o gerechtester Gott! wer wollte nicht mit einer solchen Lüg im Munde den Geist aufgeben, und sich für deinen Richterstuhl stellen?

Auch ist schon das so gar schwankend, was ich diesen Augenblick zum Behuf der Wahrhaftigkeit, der Unverstelltheit, der Offenherzigkeit vorbrachte; als, z.B., wir verabscheuen nicht selten ebensosehr das Unschuldige, das Ruhmwürdige sogar, zu offenbaren, als das Böse und Schändliche; und diese Schüchternheit zu überwinden, ist manchmal der größte Heldenmut nicht zureichend.

Das schöne Register eurer sogenannten Tugenden auf diese[553] Weise durchgegangen; dann in dem Mischmasch sie betrachtet, wie ihr sie ganz und alle zusammen, durch einen chymischen Prozeß so gern in unsre Seelen treiben, und darin hermetisch versiegeln möchtet! – Sollten wohl sein (wir Menschen) eine Art von Gewächs, das zugleich Kastanien trüge und Pomeranzen, und auch eine Ananas wäre, und ein Erdapfel, und ein Rosenstrauch – aber beileibe! daran keine Dornen. – Sollte wohl – Asia gelegen sein in Europa – sollten uns wohl bemühen, die Kunst der Barometer und Thermometer so weit zu treiben, daß wir rund um die Erde Zonam temperatam kriegten, und immer schönes und fruchtbares Wetter zugleich hätten – sollten wohl alle Tugenden erwerben und ausüben – beim Kegelschieben, oder beim Tarock, à l'hombre – sollten – sollten –

Ja, so in etwa – denken läßt sich freilich manches – noch so eben. Aber von der schimärischen Vorstellung bis zur eigentlichen; vom Traum bis zur Würklichkeit – wie weit!

Es wird überhaupt nie genug erwogen, was für ein unendlicher Unterschied zwischen Bild und Sache, zwischen Idee und Empfindung ist. Welch eine Menge der entgegengesetztesten Dinge können wir in der Idee nebeneinanderstellen, aufeinanderfolgen lassen? Ich denke, Himmel und Hölle, und mir ist ohngefähr einerlei dabei zumute. Darum überwiegt so häufig sinnlicher Reiz die Ideen von den schrecklichsten Plagen der Zukunft: Und darum ist's so ein Lumpenkram um alle gelernte Religionen und alle gelernte Moral. Ein Mensch, der beständig in der Anschauung edler Gegenstände ist, wird gewiß nie unedel handeln; wer aber das minder Gute, das minder Schöne in der Anschauung, und das höhere Schön' und Gute in der Idee hat; wie wollte der handeln können diesen gemäß? Alles stimmt zusammen die Menschen unsrer Zeit in diesen Fall zu setzen; daher der beständige Widerspruch zwischen Handlungen und Grundsätzen – daher die Irrungen selbst in dem System der Grundsätze, weil nichts irrleitender ist, als die Kombinationen bloß spekulativer Ideen. – Was für Meinungen, was für Entschlüsse werden in unsrer Kindheit nicht in unsre Köpfe geschraubt, was für Sentiments nicht hineingedämmert? – und wenn wir Arme dann hinausgestoßen werden in die Welt, wo itzt alles dawider angeht, welch innerer Zwiespalt, welche Zerrüttung, welch gegenseitiges Mißtrauen zwischen Herz und Geist!

Oh, schlage du nur fort, mein Herz – mutig und frei; dich[554] wird die Göttin der Liebe – es werden die Huldinnen alle dich beschirmen: denn du ließest alle – alle Freuden der Natur in dir lebendig werden; – vertrautest unumschränkt der allgütigen Mutter – schenktest ihrem zartesten Lächeln jedesmal von neuem dich ganz – strömtest hin in verdachtlosem Entzücken: lerntest, empfingst darum von ihr, zu geben und zu nehmen, wie sie selbst; wie die Millionen Lichtstrahlen, die auf unzähligen Gegenständen reverberieren, ohne sich zu verwirren, dann im Auge sich sammeln – wieder ohne sich zu verwirren: – Oh, unaussprechliches Wohltun – unendliche Güte – Leben und Liebe –

Luzie! liebe Luzie! daß ich Dir es mitteilen könnte! könnte leben Dich lehren dies unendliche Leben. Nie würdest Du dann befestigen wollen die Sonne, weder in Osten noch in Westen, sondern würdest wenden Dich nach Aufgang und Untergang -Und schön ist ja auch der Mond unter Sternen am Nachthimmel – Und schön der dunklere Nachthimmel mit heller funkelnden Sternen im Neulicht! – Oh, daß ich diese Gottesader in Dir rühren, und zum immerwährenden Pulsschlag bringen könnte! –

6

Wenn ich nur einen von diesen sachtsinnigen Herren angetroffen hätte, der nicht unerträgliche Seiten an sich gehabt, der nur halb soviel Nutzen gestiftet, halb soviel Freuden um sich verbreitet, und alles um ihn herum nicht zweimal soviel geschoren hätte, als unser einer; ich wollte nie ein Wort mehr von der Sache reden. (Randglosse von Allwills eigner Hand.)

Quelle:
Sturm und Drang. Band 1, München 1971, S. 546-555.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Aus Eduard Allwills Papieren
Aus Eduard Allwills Papieren (Sammlung Zenodot) (Paperback)(German) - Common

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Blumen und andere Erzählungen

Blumen und andere Erzählungen

Vier Erzählungen aus den frühen 1890er Jahren. - Blumen - Die kleine Komödie - Komödiantinnen - Der Witwer

60 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon