Die Perle

[165] Es ging ein Mann zur Frühlingszeit

Durch Busch und Felder weit und breit

Um Birke, Buch' und Erle;

Der Bäume Grün im Mayenlicht,

Die Blumen drunter sah' er nicht;

Er suchte seine Perle.


Die Perle war sein höchstes Gut,

Er hatt' um sie des Meeres Fluth

Durchschifft und viel gelitten;

Von ihr des Lebens Trost gehofft,

Im Busen sie bewahrt, und oft

Dem Räuber abgestritten.
[166]

Da sucht' er nun mit Weh und Ach

Da wies man ihm den hellen Bach,

Und drinn die goldne Schmerle;

Nichts half der Bach im Sonnenglanz,

Im Bache nichts der Schmerlen Tanz;

Er suchte seine Perle.


Und suchen wird er immer so,

Wird nicht des Lebens werden froh,

Nicht mehr die Morgenstunden

Am purpurrothen Himmel sehn;

Berg auf und nieder muß er gehn,

Bis daß er sie gefunden.


Der arme Pilger! So wie er,

Geh' ich zur Frühlingszeit umher

Um Birke, Buch' und Erle;

Des Mayen Wunder seh' ich nicht;

Was aber, ach! was mir gebricht,

Ist mehr als eine Perle.
[167]

Was mir gebricht, was ich verlor,

Was ich zum höchsten Gut erkor,

Ist Lieb' im treuen Herzen.

Vergebens wall' ich auf und ab;

Doch find' ich einst ein kühles Grab,

Das endet alle Schmerzen.

Quelle:
Johann Georg Jacobi: Sämmtliche Werke. Band 3, Zürich 1819, S. 165-168.
Lizenz:
Kategorien: