Wiegenlied für ein Mädchen

[237] Schlummre Liebchen! bist noch klein,

Weißt vom schönen Sonnenschein,

Weißt vom Strahl des Mondenlichts,

Und von Wald und Blumen nichts;

Liebchen, schlummre, werde groß!

Sollst es sehn auf meinem Schooß.


Sollst den Glanz des Himmels sehn,

Und aus ihm die Sonne gehn

Ueber Wiesen frisch und grün,

Wo die blauen Veilchen blühn.

Veilchen werden dann gepflückt,

Du ans Mutterherz gedrückt.
[238]

Mir am Herzen, liebes Kind,

Spielst du froh im Morgenwind.

Ueber dir ist Jubelklang,

Um dich her ist Lobgesang;

Leise rauschen Baum und Fluß,

Und du fühlst den Mutterkuß.


Liebchen, schlummre; wachs heran!

Siehst in meinen Armen dann

Auch der Abendsonne Gluth;

Siehst, wenn Feld und Aue ruht,

Gold und Purpur überall,

Beym Gesang der Nachtigall.


Unterm Nachtigallen-Lied

Kommt der helle Mond, und sieht

Mild herab auf dich und mich;

Alle Blumen neigen sich;

Und die Händchen falt' ich dir:

Kleiner Engel, Gott ist hier!
[239]

Gott ist hoch im Sternenglanz,

Und im niedern Veilchenkranz;

Ist, wo jener Vogel schlägt,

Und, wo dieser Arm dich trägt.

Sag' in jedem Winkel dir:

Liebes Mädchen: Gott ist hier!

Quelle:
Johann Georg Jacobi: Sämmtliche Werke. Band 3, Zürich 1819, S. 237-240.
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