37. Die beiden Försterskinder.

[202] Es waren einmal zwei Försterskinder, jung von Jahren und schön von Angesicht, ein junger Bursche und eine Jungfrau, die hatten beide ihren Schatz, aber sie durften nicht heiraten, denn die Eltern wollten es nimmer erlauben. Da sagte der Junge eines Abends: »Schwesterchen, ich halt's nicht länger mehr aus, wir wollen fliehen.« Und als das Schwesterchen damit einverstanden war, zog der Bruder geschwind die beiden Pferde aus dem Stalle, sattelte sie und zäumte sie auf, und sie ritten auf und davon. Doch der Wald war sehr gross und wollte und wollte kein Ende nehmen. Drei Tag und drei Nacht waren sie schon geritten, mit einem Male vernahmen sie ein grosses Geschrei, wie wenn viele Leute mit einander zankten. »Warte auf mich,« sprach der Bruder, »ich will sehen, was da los ist. Vielleicht ist jemand darunter, der mir Bescheid sagen kann!« Da hielt das Schwesterchen die Pferde, und der Bruder ging der Richtung nach, von wo das Geschrei erschallte.

Es dauerte gar nicht lange, so kam er zu einem grossen Hügel, darauf standen drei Riesen, die zankten sich um ihr Erbteil. »Wo kommst du her?« riefen sie, »Kommst du etwa von unserm Vater im Himmel, dass du Schiedsrichter zwischen uns seist?« Antwortete der Junge: »Richtig geraten. Euer Vater schickt mich; denn er kann es nicht länger mit ansehen, dass ihr euch gegenseitig in den Haaren liegt. Vor allen Dingen aber soll ich sehen, ob das Erbteil noch so ist, wie er es euch hinterlassen hat.« Da gaben ihm die Riesen einen Ring, der trug in sich die Kraft von zehn Riesen, den steckte der Junge an seinen Finger. Dann brachten sie ihm einen Mantel, der unsichtbar machte, einen Geldbeutel, der nie alle wurde, und ein Schwert, das alles durchschlug, Stahl und Stein; doch es war schwer, und es gehörte der Ring dazu, um es tragen zu können. Nachdem der Junge die vier Sachen hatte, sprach er: »Dass es vier Wunschdinge waren, das hatte ich gar nicht gewusst. Nun muss ich doch noch einmal zu eurem Vater in den Himmel und fragen, ob der Älteste zwei Stücke erhalten soll.« – »Lauf nur, wir warten hier unten,« riefen die Riesen, »wenn es drei Sachen wären, hätten wir uns schon[202] längst geeinigt.« Da schlug der Junge den Mantel um sich und ward unsichtbar und lief zu seiner Schwester; die Riesen aber glaubten, er wäre in den Himmel gestiegen und warteten und warteten, dass er zurück käme. Am Ende sitzen sie auch heute noch da.

Brüderchen und Schwesterchen ritten indes immer weiter, und Schwesterchen war neugierig, was Brüderchen gesehen hätte; das aber sagte, es sei nichts Absonderliches gewesen. Über eine Weile kamen sie an eine gewaltig hohe Felsenmauer. Daran ritten sie einen ganzen Tag entlang, aber immer noch war kein Ende abzusehen. Da ward der Junge zornig und schlug mit der Faust gegen den Fels, und die schweren Steine gaben nach, und er hatte ein grosses Loch in die Felsenmauer geschlagen, dass sie mit den Pferden neben einander durchreiten konnten. Das hatte alles der Stärkering gemacht, den er am Finger trug. Jenseits der Mauer lag das Land der Riesen, und ihr König wohnte in einem grossen, prächtigen Schlosse; der war der Kleinste unter ihnen allen, und grade darum hatten ihn die andern zu ihrem König gewählt. Denn: Je kleiner, je klüger! denken die Riesen; doch war er immer noch weit länger und breiter, als die Menschenkinder sind. Das gute Glück führte Bruder und Schwester gerades Wegs auf das Schloss zu, und der Riesen-König nahm sie gastlich auf; und da er ein grosser Freund von schönen Frauen war, so that ihm die Jungfrau es an, und er verliebte sich in sie. Als der Bruder einst auf die Jagd geritten war, fragte er das Mädchen, ob sie ihn nicht heiraten wolle. »Wenn mein Bruder nicht wäre, ich thäte es schon,« sagte das gottlose Ding, und von da an trachteten sie beide danach, wie sie den Jungen um das Leben brächten.

»Höre, ich hab's gefunden!« rief der Riesenkönig, »Ich habe in meinem Garten einen Apfelbaum, der trägt goldene Früchte. Den lass' ich von fünfzig Riesen bewachen und gebe ihnen den Befehl, keinen Menschen und kein Tier, sei es, was es wolle, an den Baum zu lassen. Du aber stellst dich krank, wenn dein Bruder zu Hause kommt, und bittest ihn, dass er dir ein Paar Äpfel besorge.« Und so geschah es auch. Als der Bruder von der Jagd zurückkehrte, lag Schwesterchen im Bette und weinte und jammerte und sagte, es fühle den Tod kommen. »Giebt es denn gar keine Hülfe mehr?« fragte der Junge und weinte auch. Da sagte die falsche Jungfrau: »Mir hat vorhin geträumt, ich würde wieder gesund werden, wenn du mir zwei von den goldenen Äpfeln brächtest, die in des Riesenkönigs Garten wachsen.« – »Wenn's weiter nichts ist,« rief der Junge, »so sollst du bald gesund werden,« warf den Wunschmantel um, nahm das Schwert in die Hand und ging in den Garten. Da sah er vor dem Baume die fünfzig Mann, und als er merkte, dass sie keinen durchlassen sollten, schwang er sein Schwert und schlug ihnen die Köpfe ab. Nur zwei liess er übrig; die fielen nämlich auf ihre Knie und baten ihn, wer er auch sei, (denn sie konnten ihn ja nicht sehen), er möchte ihnen das Leben schenken, auch dürfe er sich so viel Äpfel nehmen, als er nur immer haben wolle. »Ich will nur zwei,« antwortete der[203] Junge, brach die Äpfel und brachte sie seiner Schwester ins Schloss. Die ass davon und sagte, geholfen hätte es wohl, aber ganz gesund sei sie noch immer nicht. Antwortete der Junge: »So kann ich dir nicht helfen,« und ging wiederum auf die Jagd.

»Was ist das für ein Held!« rief der Riesenkönig furchtsam, als der Junge davon gegangen war. »O, er kann noch mehr,« antwortete die Schwester, »so leichten Kaufs werden wir ihn nicht los.« – »Und ich weiss doch noch etwas,« sagte der Riesenkönig, »das bringt ihn gewiss ums Leben. Ich habe einen Brunnen im Garten, das ist der Brunnen des Lebens. Und davor liegen zwei gewaltige Löwen an der Kette, die zerreissen jeden, der von dem Wasser schöpfen will.« Das war der Jungfrau lieblich zu hören, und als ihr Bruder von der Jagd zurückkehrte, sprach sie zu ihm: »Als du fort warst, verfiel ich in einen tiefen Schlaf, und es träumte mir: wenn ich von dem Brunnen des Lebens, der in dem Garten des Riesenkönigs ist, Wasser bekäme und davon tränke, so würde ich gesund zu der selbigen Stunde.« – »Sei ruhig, Schwesterchen, ich werde dir helfen,« sagte der Bruder, nahm eine Flasche und ging damit in den Garten. Wie er jedoch aus dem Brunnen schöpfen wollte, fuhren die grimmen Löwen auf ihn los. Da nahm er sein Schwert und spaltete den Löwen mit einem Schlage in zwei Teile. Als das die Löwin sah, streckte sie sich nieder und wedelte mit dem Schwanz, wie ein Hund, und leckte ihm Füsse und Hände. »Wenn du mir treu sein willst, so will ich dich von der Kette lösen,« sagte der Junge, und als er von dem Wasser geschöpft hatte, band er die Löwin von der Kette los, und sie folgte ihm nach, und wo er hin trat, da trat sie auch hin, wie es der treuste Hund nicht besser thun kann.

Als der Junge mit der Löwin ankam, geriet der Riesenkönig in grossen Schrecken und wäre am liebsten aus dem Schlosse gelaufen. Die Schwester aber trank von dem Wasser des Lebens und sagte, es wäre ihr nun schon viel besser zu Mute, aber ganz gesund sei sie doch noch nicht. Das konnte der Junge nicht ändern, und er ging wie gewöhnlich fleissig auf die Jagd. Eines Tages traf er im Walde einen hohen, steinernen Turm, und als er näher heranging, erblickte er eine Jungfrau, die sah zum Fenster heraus und klagte dem lieben Gott ihre Not. »Wer bist du?« fragte der Junge. »Ich bin die Tochter des Königs von Engelland,« sagte die Jungfrau, »der gottlose Riesenkönig hat mich geraubt, und da ich ihn nicht heiraten wollte, so hat er mich bei Wasser und Brot in diesen Turm gesperrt, und hier sitze ich nun schon an vier Jahre.« Das that dem Jungen leid, und er schlug mit der Faust gegen die Thüre, dass sie in tausend Stücke sprang; dann holte er die Prinzessin heraus und brachte sie an den Strand. Dort steckte er einen Baum in den Sand und band sein Taschentuch an die Spitze, dass es den Schiffern ein Zeichen wäre, wenn sie an der Küste vorüber segelten. Es dauerte auch gar nicht lange, so kam ein Schiff, und als die Schiffsleute die Notflagge sahen, setzten sie ein Boot aus und fuhren an Land. Dort übergab[204] ihnen der Junge die Prinzessin und zählte ihnen aus dem Wunschbeutel tausend Goldstücke auf, dass sie die Prinzessin nach Engelland brächten; denn es sei des dortigen Königs einzige Tochter. Als die Schiffsleute das viele Gold erblickten, versprachen sie, die Prinzessin mitzunehmen, und stiessen ab vom Lande, brachten sie an Bord und segelten weiter. Unterwegs nahmen sie jedoch der Kapitän und der Steuermann bei Seite, und sie sollte ihnen zuschwören, dass sie von ihnen erlöst sei, sonst würde sie in das Meer geworfen. Da geriet die Prinzessin in grosse Furcht und schwur ihnen zu, was sie von ihr verlangten. Als sie nun in Engelland ankamen, sagte sie zwar ihrem Vater, dem Könige, dass die fremden Schiffer sie erlöst hätten; als er aber sprach, nun müsse sie auch einen von den beiden zum Manne nehmen, antwortete sie, die Lust zum Heiraten sei ihr vergangen. Da wurden die Schiffer mit einer grossen Belohnung abgefunden, die Prinzessin aber baute ein Krankenhaus, in dem fanden alle siechen und kranken Wanderer Aufnahme, aus welcher Herren Länder sie auch herstammen mochten. Den einen Tag besuchte sie die Siechen und den andern die Kranken, und das that sie immerfort. Wir wollen sie nun in ihrem Krankenhause lassen und sehen, was inzwischen aus dem Jägerssohne geworden ist.

Nachdem er ein paar Wochen in dem Schlosse zugebracht hatte, war er des Lebens im Riesenlande überdrüssig und sagte zu seiner Schwester: »Komm, wir wollen weiter ziehen!« – »Nicht doch, mein Bruder,« antwortete die Schwester, »ich bin noch immer so krank und schwach, dass ich nicht reiten und nicht fahren kann. Aber heut Nacht hatte ich wieder einen Traum, da sagte mir eine Stimme, ich würde gesund werden, wie zuvor, wenn du mir sagtest, woher du deine grosse Stärke hast.« Das wollte der Bruder nicht offenbaren; aber die Schwester bekam ihn doch mürbe, denn sie legte sich zu Bette und stöhnte und ächzte, als sei ihr letztes Stündlein nahe, und wenn dann der Bruder kam und sie trösten wollte, so schalt sie ihn einen Mörder, der seine Schwester eher sterben liesse, als dass er sein Geheimnis verriete. Endlich ward seine Seele müde und matt, und er erzählte ihr alles, wie es gekommen war. Als er nun im Bette lag und schlief, schlich sich seine Schwester auf Strümpfen in die Stube und stahl ihm den Mantel, den Beutel und das Schwert, und zu guter letzt streifte sie ihm auch ganz leise, leise den Stärkering von dem Finger. Da war er nicht stärker, als ein anderer Mensch; die Jungfrau aber brachte die Wunschdinge dem Riesenkönig, und als der sie hatte, schloss er sie in den Kasten; dann stand er auf und ging zu dem Jungen in die Schlafkammer, riss ihn aus dem Bette und sprach zu ihm: »Jetzt sollst du den Lohn dafür bekommen, dass du mir die achtundvierzig Riesen und den Löwen erschlagen hast.« Der Junge wollte sich zur Wehr setzen; aber als er sah, dass der Ring nicht mehr am Finger steckte, merkte er, was geschehen war und warum sich seine Schwester immer so krank gestellt hatte, und liess sich alles gefallen, was der Riesenkönig mit ihm machte. Der aber befahl[205] den beiden Riesen, welche der Junge damals verschont hatte, sie sollten ihn jenseits der Mauer bringen und ihm die Zunge ausschneiden und beide Augen ausstechen. Das thaten sie auch; als sie jedoch das Messer zuckten, fiel er auf seine Knie und bat sie, ihm doch die Zunge zu lassen, damit er nicht Hungers stürbe. Da dachten die beiden Riesen daran, wie er auch ihrer verschont habe, und stachen ihm nur die Augen aus. Dann nahmen sie das Junge der Löwin, die ihrem Herren nachgefolgt war und das sie so eben geworfen hatte, und töteten es und schnitten ihm die Zunge aus und brachten darauf die Augen und die Zunge dem Riesenkönig als Wahrzeichen auf sein Schloss. Der feierte sogleich Hochzeit mit der gottlosen Jungfrau, und sie lebten vergnügt und fröhlich, wie gottlose Leute eben nur leben können.

Der arme Blinde sass indessen im Walde und wusste nicht wo aus noch ein. Doch als er durstig war, kam die Löwin zu ihm, und er trank von ihrer Milch, und die Tiere des Waldes kamen und trugen ihm Wurzeln und Beeren und Nüsse herbei, dass er nicht Hungers stürbe. So verging ein ganzes Jahr; aber die Löwin hatte ihn nach und nach dem Strande zu geleitet. Hier trafen ihn eines Tages Seeleute, die süsses Wasser einnehmen wollten; und als er ihre Stimmen hörte, bat er sie: »Nehmt mich mit, ihr lieben Leute, wohin es auch sei.« Antworteten die Schiffer: »Wir segeln nach Engelland und wollen dich gerne mitnehmen; aber schicke die Löwin fort, die sieht so fürchterlich aus, dass wir nicht an dich heranzukommen wagen.« – »Sie thut euch nichts,« sprach der Junge; doch da die Seeleute darauf bestanden, schickte er die Löwin fort, und die Leute trugen ihn schnell in das Boot und gingen mit ihm an Bord. Als sie oben waren und das Schiff absegelte, merkte die Löwin, dass ihr Herr verschwunden sei. Und sie brüllte laut und sprang in das Meer und schwamm dem Schiffe nach, und ehe sich's die Schiffsleute versahen, war sie die Schiffswand emporgeklettert und stand auf Deck. Da flohen die Mannschaften auf die Masten, und der Kapitän und der Steuermann liefen in die Kajüte; aber die Löwin that so freundlich und wedelte mit dem Schwanze, dass einer nach dem andern wieder auf Deck kam, und jedem einzelnen leckte sie Füsse und Hände, dass sie sich allesamt über das Tier freuten. Wind und Wetter waren wunderschön, und nach schneller Fahrt ging das Schiff im Hafen der Hauptstadt des Königs von Engelland vor Anker. Der Kapitän war ein guter Mann und sorgte sogleich dafür, dass der blinde Fremdling in das grosse Krankenhaus der Prinzessin gebracht wurde. Die Löwin aber blieb bei ihm und wich nicht von seiner Seite; und als die Wärter sie wegbringen wollten, wies sie ihnen die Zähne. Da liefen sie zu der Königstochter und meldeten ihr, ein blinder Mann mit einer Löwin sei von einem Schiffer in das Krankenhaus gebracht, und das Tier wolle nicht von seinem Herren weichen. Die Prinzessin ahnte schon, wer es sein könnte, und kam selbst, und als sie den blinden Mann erblickte, stürzte sie auf ihn zu und herzte[206] und küsste ihn; und auch die Löwin war ganz unsinnig vor Freude, denn sie war ja dabei gewesen, als ihr Herr die Prinzessin aus dem Turme befreite.

Der Blinde wurde sogleich in die Kutsche getragen, und sie fuhren auf das Schloss zum König. Hier musste er alles erzählen, wie es gekommen war, und als der König erfuhr, dass nicht die Schiffer, sondern er die Prinzessin erlöst habe, wusste er wohl, warum seine Tochter nicht hatte heiraten wollen. Nun war es etwas anderes, und die Hochzeit wurde noch an demselben Tage gefeiert, in grosser Pracht und Herrlichkeit. Nachdem sie ein paar Wochen zusammen gelebt hatten, führte die Königstochter ihren Mann in den Wald; und als sie eine Weile gegangen waren, wurde er durstig und bat sie, dass sie ihn zu einer Quelle führe. Das that die Prinzessin auch; aber am Rande des Brunnens glitt ihr Mann aus und stürzte in das Wasser. Als er wieder auftauchte, hatte er beide Augen im Kopfe und konnte besser sehen, wie je zuvor; denn der Brunnen hatte die Eigenschaft, den Blinden das Gesicht wieder zu geben, wenn sie hinein sprangen. Nun war die Freude gross, und als sie in das Schloss zurückgekehrt waren, wollte der alte König sogleich an seinen Schwiegersohn die Regierung abgeben und sich zur Ruhe setzen. »Nein, das darf ich noch nicht,« entgegnete dieser, »zuvor muss ich an meiner Schwester und an dem Riesenkönig Rache nehmen.« Die Prinzessin weinte und jammerte und bat ihn, sie nicht zu verlassen, der liebe Gott werde die beiden schon strafen; aber er hörte nicht darauf. Ein Kriegsschiff wurde ausgerüstet, dann liess er der Prinzessin als Schutz die Löwin zurück, gab ihr noch einen Abschiedskuss und ging an Bord. Die Anker wurden gelichtet, und das Schiff segelte ab.

Nachdem sie an die Küste gekommen waren, wo ihn das Schiff damals aufgenommen hatte, sagte er zu den Mannschaften: »Wenn ich in acht Tagen nicht wieder an Bord zurückkehre, so bin ich tot, und ihr seht mich nie wieder. Dann fahrt ohne mich nach Engelland zurück.« Darauf liess er sich mit einem Boote an Land setzen und ging schnurstracks auf die Felsenmauer zu. Als er aber an die Stelle gekommen war, wo er damals mit seiner Schwester hindurchgeritten war, hatten die Riesen das Loch wieder voll Felssteine getragen, und er vermochte keinen davon zu rücken und zu rühren, so sehr er sich auch Mühe gab. Da überfiel ihn Verzweiflung; denn wenn er sich nicht rächen konnte, wollte er auch nicht leben. Er setzte sich unter einen hohen Baum und zog sein Schwert, um sich in das Herz zu stechen. Indem fiel eine Maus von dem Baume herab, die trug eine kleine Krone auf dem Kopfe und kam ihm gerade zwischen die Finger, dass sie nicht vorwärts und nicht rückwärts konnte. »Ach, töte mich nicht,« rief sie, »ich kann dir helfen!« – »Wie wolltest du mir helfen können?« antwortete der Prinz. »Ich bin der Mäusekönig,« erwiderte das Tierchen, »und mir gehorchen alle Mäuse der ganzen Welt.« – »Das ist etwas anderes!« sprach der Prinz; »Wenn du deinen Mäusen den Befehl geben willst, dass sie unter die Felsenmauer[207] einen Gang graben und mir aus dem Schlosse des Riesenkönigs den Ring holen, den er in den Kasten geschlossen hat, so sollst du deine Freiheit wieder erlangen.« Da pfiff der Mäusekönig, und sogleich kamen alle Mäuse zu hauf; und als sie erfahren hatten, warum es sich handle, gruben sie flink einen Gang unter die Felsenmauer und zogen auf das Riesenschloss. Dort nagten sie Thüren und Dielen durch, und als sie bei dem Kasten waren, frassen sie ein Loch in die Deckelwand, und ehe der Prinz es sich versah, waren sie wieder bei ihm, und die vorderste Maus trug den Ring im Maule, und drei andere halfen ihr tragen.

Als der Prinz den Ring hatte, liess er den Mäusekönig laufen und streifte darauf den Reif an den Finger. Da überkam ihm wieder die Kraft von zehn Riesen, und als er gegen die Mauer schlug, brach sie durch, und er schritt aufrecht durch die Lücke in das Riesenland hinein. Der Riesenkönig sass mit seiner Frau in dem Garten in der Laube, und sie schäkerten und scherzten, während der Prinz in das Schloss ging, den Kasten öffnete und das Schwert, den Mantel und den Beutel herausnahm. Dann trat er in den Garten, und als er den König und seine Schwester in der Laube erblickte, packte er sie und band sie mit Weidenruten dicht aneinander, dass sie sich nicht los reissen konnten. Dann rief er die beiden Riesen, welche ihn damals hinaus führen mussten, und befahl ihnen, dem König und seiner Frau auf derselben Stelle, wo sie ihn ausgesetzt hatten, die Augen auszustechen und die Zungen auszuschneiden. Sie wimmerten und winselten wie die jungen Hunde, aber es half ihnen nichts. Der Prinz ging selbst mit und stand dabei, als die Riesen den beiden die Zungen ausschnitten und die Augen ausstachen. Dann liess er sie laufen, wohin sie wollten; es wird aber nicht lange gedauert haben, bis sie eine Speise der wilden Tiere wurden oder verhungerten.

Als er das gethan hatte, ging der Prinz mit den beiden Riesen auf das Schloss zurück und sprach zu ihnen: »Ich will euch zu Königen machen an meiner Statt über das ganze Riesenland. Vertragt euch und haltet Friede und Eintracht unter einander, sonst komme ich wieder, und es geht euch, wie den beiden im Walde.« Da versprachen ihm die Riesen, sie wollten ihm in allen Stücken gehorsam sein, und sie haben auch Wort gehalten; der Prinz aber ging an den Strand, und es war gerade der vierte Tag, als er wieder an Bord gelangte. Darauf fuhren sie mit günstigem Winde zwei Monde lang, bis das Schiff in Engelland vor Anker ging. Jetzt nahm der Prinz den Vorschlag des alten Königs an und wurde Herr über ganz Engelland und lebte mit seiner jungen Frau, der Königin, in Glück und Frieden; und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie heute noch.

Quelle:
Ulrich Jahn: Volksmärchen aus Pommern und Rügen l, Norden/Leipzig 1891, S. 202-208.
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