58. Das Wunderbuch.

[317] Es war einmal eine arme Frau, die wohnte auf einem Gute und hatte einen einzigen Sohn. Der musste, wie es auf dem Lande Sitte ist, des Winters zur Schule gehen und des Sommers die Schweine hüten. Als er nun eingesegnet war, missfiel ihm das Schweinejungen-Amt, und er klagte der Mutter sein Leid. Die lief zum Herrn und fragte, ob er nicht einen andern Dienst für ihren Sohn habe, das Schweinehüten stehe ihm nicht mehr an. Antwortete der Edelmann: »Wenn er die Schweine nicht hüten will, mag er sich vom Hofe scheren,« und damit war die Sache abgemacht. Doch nicht für den Jungen! Der setzte seiner Mutter so lange zu, bis sie den Korb unter den Arm nahm (denn ohne Korb kann eine Frau auf dem Lande nicht gehen) und mit ihm aus dem Dorfe wankte, um ihm einen neuen Dienst zu suchen, dem Edelmann zum Trotz; denn es wird ja auch sonst in der Welt Brot gebacken.

Es dauerte gar nicht lange, so kamen sie in einen Fichtentanger, und nachdem sie ein Weilchen darin gegangen waren, begegneten sie einem feinen Kutschwagen, der war mit vier schwarzen Rossen bespannt. Der feine Herr, der in dem Schlage sass, besah den Jungen von unten bis oben, dann sprach er zu der Mutter: »Wo wollt ihr hin, ihr beiden?« – »Ich will meinem Sohn einen andern Dienst verschaffen,« antwortete die Alte, »das Schweinehüten ist ihm über geworden.« – »Das ist auch ein hässliches Geschäft,« erwiderte der vornehme Herr, »gieb ihn mir in den Dienst! Ich will ihn kleiden und gut halten in Essen und Trinken, und ausserdem soll er dreihundert Thaler Lohn[317] bekommen für jedes Jahr.« Da sprang der alten Frau das Herz vor Freuden im Leibe; und als ihr der vornehme Herr obendrein fünfzig Thaler Mietsgeld in die Hand drückte, gab sie dem Jungen gute Worte, dass er sich ja nichts zu schulden kommen lasse, und darauf machte sie, dass sie wieder nach Hause zurück kam.

Der Junge war indessen zu dem Herrn in den Wagen gestiegen, und sie fuhren immer weiter und weiter, bis der Kutscher endlich tief im Walde vor einem grossen, schönen Hause hielt. »Mein Sohn,« sagte der vornehme Herr, als sie ausgestiegen waren, »dies hier ist mein Haus. Es hat zwölf Zimmer; elf davon musst du alle Tage ausfegen und säubern; aber das zwölfte darfst du niemals betreten, so lieb dir dein Leben ist. Für Essen und Trinken brauchst du nicht zu sorgen, das ist vorhanden, sobald du es begehrst.« Nachdem der Junge versprochen hatte, alles zu thun, wie ihm von dem Herrn befohlen war, stieg derselbe wieder in den Wagen hinein und fuhr fort. Der Junge verrichtete Tag für Tag seine Arbeit. Er fegte die Stuben und stäubte die Bücher ab, und die Zimmer sahen so sauber aus, dass es eine Freude war; auch liess er sich nie gelüsten, in das zwölfte Zimmer zu gehen. Wenn er aber essen und trinken wollte, stand sogleich vor ihm der Tisch gedeckt, und er konnte essen davon so viel, als sein Herz begehrte. – Nachdem das eine Jahr vergangen war, kehrte der vornehme Herr zurück und besah die Zimmer, lobte den Jungen und sprach: »Du bist ein treuer Diener! Nun komm, dass ich dir deinen Lohn auszahle!« – Der Junge wollte aber von Ablöhnung nichts wissen, und der Herr war es zufrieden und mietete ihn auch für das zweite Jahr. Das verstrich nicht anders, wie das erste; und als der letzte Tag vergangen war, kam der Herr zurück, um ihm die sechshundert Thaler Lohn einzuhändigen. »Nicht doch,« sprach der Junge, »warum wollt Ihr mich denn aus dem Hause jagen! Ich will gerne noch ein Jahr aushalten.« – »Meinetwegen,« antwortete der Herr; und der Junge versah auch das dritte Jahr seinen Dienst, wie er es vorher gethan hatte. Als jedoch der Morgen kam, dass der Herr heimkehren musste, liess ihm die Neugier keine Ruhe mehr, und er ging zu der verbotenen Thür, steckte den Schlüssel in's Schloss und drehte ihn herum. Krach! sprang die Thür auf, und er stand in einem grossen, luftigen Gemach.

Ihm gegenüber hing an der Wand ein kohlschwarzer Rabe, der war mit drei Nägeln an das Mauerwerk geschlagen und konnte sich nicht rücken und rühren. »Junge,« schrie er heiser, »gieb mir zu trinken, damit ich nicht vor Durst verschmachte.« Der Junge hatte ein gutes Herz; und weil auf dem Tische eine Schüssel mit Wasser stand und ein Schwamm zur Seite lag, tauchte er den Schwamm hinein, ging hin und träufelte einen Tropfen Wasser dem Raben in den Schnabel. In demselben Augenblick fiel einer von den drei Nägeln auf den Erdboden. Der Junge aber achtete nicht darauf und flösste dem Raben einen zweiten und dritten Tropfen in den Schnabel. Mit dem dritten Tropfen war aber auch der dritte Nagel[318] auf die Erde gefallen, und der Rabe rührte seine Schwingen und flog krächzend zum Fenster hinaus. Kaum war er draussen, so fiel ein kleines Büchlein vom Brette herab. Der Junge lief und stellte es wieder darauf; aber das half alles nichts, er hatte es hundert Mal hinaufgelegt, es fiel stets sogleich wieder herab, und es blieb ihm nichts übrig, als das Buch einzustecken, damit der Herr nicht dahinter käme. Er hatte es aber doch erfahren; denn noch desselbigen Tages kam er zurück und sprach: »Dein Glück, dass dein Jahr schon um war, als du in das verbotene Zimmer tratest. Aber, weil du die drei Jahre treu gedient hast, will ich dir ausser den neunhundert Thalern noch ein Kleid schenken, das bleibt unverändert, so lange du lebst.« Damit gab er dem Jungen einen Beutel mit Geld und ein herrliches Kleid, das war ganz steif von Gold. Das musste er anziehen; und darauf hiess ihn der Herr in den Wagen steigen, und der Kutscher fuhr ihn in den Fichtentanger und setzte ihn an derselben Stelle ab, wo er ihn aufgenommen hatte. Dann fuhr er zu seinem Herrn zurück; der Schweinejunge aber machte, dass er in das kleine Dörfchen zu seiner Mutter kam.

Der alten Frau zitterten die Knie, als sie den vornehmen Herrn in dem goldenen Kleide auf sich zukommen sah, und sie fragte ängstlich nach seinem Begehr. »Mutter,« rief er vergnügt, »kennst du mich denn nicht mehr? Ich bin doch erst drei Jahre in der Fremde gewesen!« Da glaubte sie, der feine Herr halte sie zum Narren, und sagte: »Nein, ich kenne Euch nicht!« – Nun hatten aber in der alten Zeit die Menschen Merkzeichen am Körper, dass man sie wieder erkennen könne, wenn sie verloren gegangen waren. Der Junge zog darum seinen Rock aus und wies ihr die Wehne an der linken Schulter. Jetzt erkannte sie ihr Kind, und sie war so erfreut darüber, dass sie, trotzdem ihr der Sohn es verbot, sogleich in's Dorf lief und von Haus zu Haus die Neuigkeit erzählte. – Der Junge sass inzwischen in der Stube und zählte sein Geld. Als er damit fertig war, gedachte er des kleinen Buches, das er noch im Busen trug. Neugierig zog er dasselbe hervor und schlug es auf; da stand ein grosser, schwarzer Kerl vor ihm und sprach: »Was befiehlt mein Herr König? Was er befiehlt, muss ich thun.« – »Vorläufig nichts,« antwortete der Junge, schlug das Buch wieder zu, und der schwarze Kerl war verschwunden. In seinem Innern aber freute sich der Junge; denn nun hätte er das Buch um alles in der Welt nicht von sich gegeben, da er wusste, was für eine Bewandtnis es damit hatte.

Als nun der Edelmann, der von dem Gerüchte gehört hatte, ihn bat, zu ihm auf das Schloss zu kommen, fragte er ihn, ob er ihm nicht das grosse Moor mit dem Berg dabei verkaufen wollte. Das Moor war nichts wert, und der Berg war zu steil, als dass man ihn beackern konnte; dem Edelmann war darum die Sache schon recht, und er wurde mit dem Jungen handelseinig, dass er für dreihundert Thaler das Moor mit dem Berge erhalten solle. Der Junge zog alsbald den Beutel aus der Tasche, zählte dem Herrn die Kaufsumme[319] bar auf den Tisch, und das Geschäft war geschlossen. »Der Narr kann sein Geld nicht früh genug los werden!« lachte der Edelmann, als der Junge vom Hofe ging. Der wusste aber wohl, was er wollte. Denn als er bei seiner Mutter Hause angelangt und der Abend gekommen war, nahm er sein Buch und schlug es auf. »Was befiehlt mein Herr König?« sagte der schwarze Kerl; »was er befiehlt, muss ich thun.« – »Ich will, dass du den grossen Berg in das Moor karrst und mir aus dem Bruchland das schönste Ackerland machst.« Damit schlug er das Buch zu, und der schwarze Kerl war verschwunden. Am andern Morgen schaute sich der Edelmann vergebens nach dem Berge um und dem Ellernbruch; davon war nirgends etwas zu sehen. Er schickte zu dem Jungen und fragte, wie er das gemacht habe. »Das hat mir Gott beschert,« liess der Junge ihm melden, und mit diesem Bescheid musste der Herr sich zufrieden geben.

Am folgenden Abend nahm der Junge wiederum das Buch hervor und schlug es auf; und als der schwarze Kerl ihn nach seinen Befehlen fragte, gebot er ihm, auf dem neuen Ackerland über Nacht das schönste Schloss unter der Sonne zu bauen. Und richtig, als der Morgen graute, stand das schönste Schloss unter der Sonne da, und des Edelmanns Schloss gegenüber nahm sich dagegen aus, wie eine Taglöhners-Hütte. Der Herr hatte kaum das prächtige Haus erblickt und von den Leuten vernommen, dass es dem Schweinejungen gehöre, als er sich zu Pferde setzte und hinüber ritt. »Lieber Herr,« sagte er freundlich und zog seinen Hut, was ein Edelmann nicht gerne thut, »wer hat Euch das herrliche Schloss gebaut?« – »Das hat mir Gott beschert,« antwortete der Junge. – »Das ist ja schön von dem lieben Gott,« meinte der Edelmann, »und nun wir Nachbarn geworden sind, könntet Ihr auch mein Schwiegersohn werden. Ich habe eine einzige Tochter, so in Euren Jahren, und sie wird Euch sicherlich gerne nehmen.« – »Schönen Dank,« erwiderte der Junge, »aber ich bin noch zu jung zum Freien, und einen Schweinejungen mag Eure Tochter erst gar nicht.« Da sah der Edelmann wohl ein, dass der Junge nicht wollte, und kehrte ärgerlich wieder auf sein Schloss zurück.

Es dauerte gar nicht lange, so vernahm der König des Landes von dem neuen Schloss, welches das schönste war unter der Sonne, und fuhr mit der Prinzessin hinaus, um es zu besehen. Richtig, es war so, wie die Leute ihm gemeldet hatten; und weil der Junge und die Prinzessin von Anfang an einander gut leiden mochten, verlobte der König die beiden, und es wurde Hochzeit gefeiert in grosser Pracht und Herrlichkeit. Dann zogen sie auf das schöne Schloss und lebten daselbst in Ruhe und Frieden ein ganzes Jahr. Die Prinzessin hatte ihrem Manne schon einen kleinen Sohn geschenkt, als eines Tages, während der Schlossherr auf der Jagd war, der erste General des Königs kam und der Prinzessin seinen Besuch machte.

Mit dem General hatte es aber seine eigene Bewandtnis. Der König hatte ihn früher wegen seiner Tapferkeit mit der Prinzessin verlobt; doch als die Kunde von dem neuen Schlosse kam, welches[320] das schönste war unter der Sonne, war er abgedankt wor den, und seine Braut wurde dem andern gegeben. Nun hatte er immer noch nicht die Prinzessin vergessen können, und darum war er in der Abwesenheit des Jungen auf das Schloss gegangen, um die Prinzessin zu fragen, woher ihr Mann so grosse Macht und den unermesslichen Reichtum besässe. Die Prinzessin mochte ihrem ersten Bräutigam die kleine Bitte nicht abschlagen und antwortete: »Droben auf dem Sims liegt ein kleines Buch; damit vermag er alles, was er will.« Da langte der General geschwind das Buch herab und schlug es auf. Alsbald stand der schwarze Kerl vor ihm und sprach: »Dir gehört zwar das Buch nicht, denn du hast es gestohlen; aber dennoch muss ich dir gehorchen und thun, was du willst.« Befahl der General: »Nimm das Schloss mit allem, was darin ist, und trag es weit fort in eine Gegend, wohin weder Sonne noch Mond scheint.« Dann schlug er das Buch zu, und das Schloss krachte und bebte in seinen Grundmauern, und es dauerte gar nicht lange, so stand es weit, weit am Ende der Welt in einer Gegend, die weder Sonne noch Mond beschienen.

Inzwischen war der Junge von der Jagd aus dem Walde zurückgekehrt; aber vergebens schaute er sich nach seinem Schlosse um. »Hast du nicht mein Schloss gesehen, welches das schönste ist unter der Sonne?« fragte er die Leute auf der Landstrasse; aber niemand hatte es gesehen und wusste, wohin es ge kommen sei. Da sprach der Junge: »Und wenn es am Ende der Welt ist, ich ruhe und raste nicht eher, als bis ich es gefunden habe!« Darauf machte er sich auf die Wanderschaft. Er zog von einem Dorf zum andern und von einer Stadt zur andern und von einem Land zum andern, durch Wald und Wiese, Berg und Thal, und fragte alle Leute, die ihm begegneten, nach dem schönsten Schloss unter der Sonne, aber keiner vermochte ihm Auskunft zu geben. So war er schon Jahr und Tag in der Welt umhergezogen, da kam er eines Abends spät an eine Hütte im Walde. Als er herein trat, war um ihn die Luft so mild und lau, und in der Stube sass vor dem Tische ein grosser Riese, der sprach freundlich zu ihm: »Woher und wohin?« Da erzählte ihm der Junge alles, wie es ihm ergangen war, und fragte ihn, ob er nicht das schönste Schloss unter der Sonne gesehen habe. Antwortete der Riese: »Ich bin der Westwind und habe vor Jahresfrist das Schloss oft genug gesehen und linde Lüfte hineingeblasen; aber wo es jetzt ist, das weiss ich nicht. Doch nun iss und trink mit mir und dann leg dich schlafen, dass ich dich morgen zu meinem Bruder bringe, der wird wohl wissen, wo das schönste Schloss unter der Sonne ist.« Darauf ass der Junge mit dem Westwind zu Nacht; und nachdem er satt geworden war und sich hingelegt und ausgeschlafen hatte, nahm ihn der Westwind auf seinen Rücken und fuhr mit ihm durch die Luft davon. Den ganzen Tag dauerte die Reise, und als es Abend wurde, langten sie wieder vor einer Hütte mitten im Walde an. Ringsherum war aber alles versengt und vertrocknet, denn in der[321] Hütte wohnte der Ostwind. »Guten Tag, Bruder,« sprach der Abendwind, »hier bringe ich dir einen guten Freund von mir, der möchte gern wissen, wohin sein Schloss gekommen ist, welches das schönste war unter der Sonne.« – Da sagte der Ostwind ebenfalls: »Gesehen hab' ich's vor Jahr und Tag oftmals, aber wo es jetzt hingekommen ist, weiss ich nicht. Doch ich werde morgen mit dem Manne zu unserm Bruder fliegen, dem wird es wohl bekannt sein.« Nachdem er das gesagt hatte, flog der Abendwind wieder zurück, der Junge aber blieb bei dem Ostwind, bis der Tag anbrach; dann musste er auf seinen Rücken steigen, und fort ging's, schneller, als der Vogel fliegt, bis sie endlich zur Abendzeit an eine Hütte im Walde gelangten, aus der eine grosse Hitze hervorkam; auch waren die Bäume ringsum ganz schwarz gebrannt. »Guten Abend, Bruder Südwind,« sagte der Ostwind, als sie in die Hütte getreten waren, »hier bring' ich dir einen Freund unsers kleinen Bruders, des Abendwindes, der möchte gern wissen, wohin sein Schloss gekommen ist, welches das schönste war unter der Sonne.« – »Ich kenne es wohl,« antwortete der Südwind, »aber wo es jetzt ist, weiss ich nicht; doch unser grosser Bruder wird's sicherlich wissen.« Sagte der Ostwind: »Bruder, so bring den Mann hin,« und als der Südwind ihm das versprochen hatte, flog er in sein Haus zurück.

Am andern Morgen fuhr der Junge auf dem Rücken des Südwindes durch die Luft davon. Zuerst war es sehr heiss und schwül, denn sie waren noch im Reiche des Südwindes; dann aber wurde es kühl und kühler, bis es endlich eine eisige Kälte war. Da langten sie auf den Abend vor einer Hütte an, die tief im Walde ganz in Schnee und Eis verborgen lag. »Guten Abend, Bruder Nordwind,« sagte der Südwind, als er die Thüre geöffnet hatte, »der kleine Bruder hat mir durch den Ostwind diesen Mann zugeschickt; der möchte gern wissen, wo sein Schloss geblieben ist, welches das schönste war unter der Sonne.« – »Das weiss ich auch nicht,« antwortete der Nordwind, »wo ich hinkomme, steht es nicht; aber Mutters Schwester wird's wissen.« – »Dann bring ihn zu ihr!« sagte der Südwind, und flog davon. Und der Nordwind that es auch, hiess den Jungen am andern Morgen auf seinen Rücken steigen und flog mit ihm, bis sie an's Ende der Welt, an das grosse Meer kamen. Dort stiess er dreimal mit dem Fusse auf den Sand, und alsbald stieg ein gewaltig grosses Riesenweib aus dem Meere heraus. »Guten Tag, Königin des Wassers und der Fische im Meer,« sagte der Nordwind, »mein kleiner Bruder hat diesen Mann dem Ostwind empfohlen, und der hat ihn zum Südwind gebracht, und der Südwind zu mir; er möchte gern wissen, wo sein Schloss geblieben ist, welches das schönste war unter der Sonne. Auf der Erde ist's nicht, sonst müsste ich's wissen, denn ich komme überall hin.« Sprach das Riesenweib zu dem Jungen: »Komm mit mir!« und er stieg mit ihr in das Meer hinein, und sie sahen überall hin; aber von dem schönsten Schloss unter der Sonne war nirgends etwas zu sehen. Da war der Junge[322] sehr betrübt und fing an zu weinen. »Weine nicht,« antwortete die Königin des Wassers, »noch ist nicht alles verloren; ich habe eine Tochter, die herrscht über das Innere der Erde, die mag am Ende wissen, wohin das schönste Schloss unter der Sonne gekommen ist,« und damit ging sie mit ihm, wo ihre Tochter wohnte.

Als sie dort angekommen waren, sprach sie: »Mein Kind, der Vetter Ostwind möchte diesem Manne helfen; dem ist sein Schloss verloren gegangen, welches das schönste war unter der Sonne. Weisst du nicht, wo es ist?« Da nahm die Tochter ein kleines Glöckchen und klingelte, und sogleich kam alles Gewürm der ganzen Erde herbei und stellte sich auf in Scharen unter ihren Königen. »Seid ihr alle beisammen?« fragte die Riesentochter. Da trat der Mauskönig hervor und sprach: »Mir fehlt noch eine Maus.« Nun warteten sie noch einen ganzen Tag, da kam das kleine Mäuschen herangesprungen. »Warum bleibst du so lange?« fragte die Königin der Erde. Und das Mäuschen antwortete: »Ich wohne in dem Schlosse, welches das schönste ist unter der Sonne; aber die Mauern sind neu und stark, und ich musste einen ganzen Tag nagen und fressen, dass ich durch kam.« – »Es ist gut,« sagte die Königin und, nachdem sie alles Gewürm wieder entlassen hatte, befahl sie dem Mäuschen, dass es den fremden Mann zu dem Schlosse bringe. Da gingen sie zusammen lange Zeit, bis sie endlich an das Schloss kamen; aber es war stockfinstere Nacht um sie her. »Liebes Mäuschen,« sprach der Junge, »nun hast du mich so weit gebracht, jetzt musst du mir auch weiter helfen. Schaff mir das Wunderbüchlein.« Antwortete das Mäuschen: »Das wird schlecht gehen; denn der böse General hat's immer unter seinem Kopfkissen zu liegen, wenn er schläft, und den Tag über trägt er es bei sich!« Aber weil es ein gutes Herz hatte, kroch es hinein in das Schloss und passte die Gelegenheit ab, bis der General schlief. Da kroch es unter das Kopfkissen und zupfte an dem Buche. »Wer ist da?« rief der General und erwachte. »Sei doch nicht so zornig,« besänftigte ihn die Prinzessin, welche neben ihm im Bette lag, »es wird das kleine Mäuschen sein, mit dem unser Kind immer spielt.« Da beruhigte sich der General und schlief wieder ein. Sobald das Mäuschen ihn schnarchen hörte, zupfte es zum zweiten Male, so stark es konnte, und hatte das Zauberbüchlein beinahe herausgebracht. Indem erwachte der General und ward bitterböse und rief: »Das dumme Tier lässt mich nicht schlafen. Ich schlage es tot.« – »Nicht doch, Männchen,« bat die Prinzessin, »es ist unsers Kindes einziger Spielgesell; töte es nicht!« Da liess sich der General bereden, und nachdem er sich noch ein paar Mal hin und her geworfen hatte, schlief er so fest, wie vorher. »Jetzt gilt's!« dachte das Mäuschen und zupfte das Zauberbüchlein ganz heraus und machte, dass es damit aus dem Schlosse kam. Und die Eile tat not; denn der General war wieder erwacht und tobte und fluchte erschrecklich und hätte das Mäuschen sicherlich umgebracht, wenn er es nur erwischt hätte. Das war aber inzwischen zu dem Jungen gelangt und übergab ihm das Buch. Sogleich[323] schlug er es auf, und der schwarze Kerl erschien und fragte: »Was befiehlt mein Herr König?« und lachte dabei über das ganze Gesicht, so freute er sich, seinen alten Herrn wieder zu haben. Der Junge aber sagte: »Ich befehle, dass alles, was in dem Schlosse ist, in einen festen Schlaf verfällt und nicht eher erwacht, als bis ich es haben will. Sodann will ich, dass das Schloss mit allem, was darinnen ist, und mit mir und dem Mäuschen wieder an der alten Stelle steht, wo es vorher gestanden hat.« Es dauerte auch gar nicht lange, so waren die Befehle erfüllt, und die Leute auf der Strasse konnten wieder ihr Herz erfreuen an dem schönsten Schloss unter der Sonne.

Der Junge aber ging hin und tröstete seine alte Mutter, die ihn schon längst für tot beweint hatte; dann machte er sich auf den Weg in die Stadt und bat den König, dass er mit ihm käme. Das that der König auch, und als sie beide in das Schloss traten und in die Schlafkammer kamen, wo die Prinzessin und der General im Bette lagen und schliefen, sagte der Junge: »Ich habe mit Wind und Sturm, mit Frost und Hitze, mit Wasser über der Erde und unter der Erde gekämpft, dass ich mein Schloss wieder bekäme. Jetzt sage: Was hat der Bösewicht verdient, der deine Tochter entführte und mir die schweren Arbeiten bereitet hat?« Rief der alte König zornig: »Es ist mein bester Feldherr, aber er hat sich so schwer vergangen, dass er verdient, mit vier Ochsen auseinander getrieben zu werden.« Da liess ihn der Junge erwachen, und sogleich wurde ihm an jeden Arm und an jedes Bein ein wilder Stier gespannt, die rissen ihn auseinander. Darauf wurde ein mächtiges Feuer angezündet, und darein warfen die Henkersknechte den zerrissenen Leichnam, dass er verbrannte und nichts übrig blieb als ein Häufchen weisser Asche, die in die vier Winde verwehte.

Nun liess der Junge auch die Prinzessin wieder erwachen, und nachdem sie erzählt hatte, wie alles ge kommen war, sprach er: »Du hast zwar mein Glück leichtsinnig aus der Hand gegeben, aber um unseres Kindes willen soll dir vergeben werden.« Damit war auch der alte König einverstanden, und es wurde noch einmal Hochzeit gefeiert, und sie lebten von nun an mit ihrem Sohne in Glück und Frieden bis an ihr Lebensende. Auch das kleine Mäuschen haben sie nicht vergessen; und wenn es nicht gestorben ist, lebt es noch bis auf den heutigen Tag.

Quelle:
Ulrich Jahn: Volksmärchen aus Pommern und Rügen l, Norden/Leipzig 1891, S. 317-324.
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