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[94] Am andern Morgen erwartete sie unruhig das Eintreffen des Briefboten. Er kam nicht. Sie ging aus, kehrte wieder, ging nochmals aus, und fand noch immer keine Nachricht von Hause. Quälender Hunger begann sich ihrer zu bemächtigen, aber nochmehr bittere Angst. Nicht ihret- und ihrer Zukunft wegen. Um den Mann, den sie in kühler Gleichgültigkeit verlassen hatte, weil ihr das Leben an seiner Seite zu wenig interessant erschienen war. Wenn das Weib nur aufrichtig gegen sich wäre, dachte sie, wie viele Trennungen, die unter hochtrabenden Gründen eingeleitet werden, haben in dem einfachen Gelangweiltsein der Frau ihren wahren Grund. Und wie sie jetzt an ihn dachte, der immer so schweigsam gewesen war, und immer in heimlicher thätiger Liebe für sie geschafft und gewirkt hatte, zu stolz, um sie in den Bestrebungen, die sie immer weiter von ihm entfernten, zu hindern, zu einfältig und schlicht, um ihr das Ergebnis ihres törichten Beginnens vorauszusagen, da[94] fühlte sie ein tiefe, unaussprechliche Sehnsucht nach ihm in sich erwachen.

Sie rief sich sein Äußeres ins Gedächtnis, die schlichte Gestalt mit dem hellbraunen Haar und den verschlossenen ernsten Zügen, die ein paar ruhiger dunkelblauer Augen beherrschte. Sie hatte in spätern Jahren sein Angesicht banal gefunden, weil keine große Lebendigkeit sein Mienenspiel wechseln ließ, jetzt, wo sie den Untergrund seines Wesens zu ahnen begann, erschien ihr dieses Gesicht in seiner männlichen Ruhe sympathisch, ja liebenswert. Warum nur Trennung oder Tod zum Erkennen des Zweiten nötig ist?

Sie stieg unzählige Male an diesem Tag die Treppe hinab, um im Freien ihrer Unruhe einigermaßen Herr zu werden.

Gegen Abend ging sie nach einem Leihamt und lieh sich Geld auf ihre Uhr. Dann setzte sie sich in eine Konditorei und griff zu den Zeitungen. Ein Referat über den gestrigen Frauenabend fesselte bald ihre Aufmerksamkeit.

»Ein Flor reizender Damen« hieß es darin, »hatte sich versammelt. Die Palme des Abends errang Fräulein Buturund, deren allerliebster Lockenkopf kaum die ernsten Gedanken erraten läßt, die in ihm wohnen. Auch Frau Tini Großens junonische Gestalt fehlte nicht.« In kurzen Sätzen war das Hauptsächliche ihrer Rede[95] wiederholt. »Frau Sanghausen entzückte die Versammlung wie immer durch die Musik ihres Organs. In der ersten Sitzreihe sah man die allerliebsten Fräulein von Rotmüller. Auch Frau Baronin von Wallfred, bekannt durch die exklusive Vornehmheit ihrer Toiletten, erblickten wir.«

In diesem scherzhaften Plauderton gings weiter. Also so ernst nahm man die Frauenrechtlerinnen! Man sprach von ihren hübschen Gesichtern und ihren Toiletten. Hildegard griff zu einer andern Zeitung. Auch hier derselbe Ton in der Erwähnung des Frauenabends. Die hübsche X. und die reizende Y. Auch ein dritter Bericht lautete nicht anders. Hildegard fühlte Röte in ihre Wangen steigen. So wenig Enthusiasmus sie auch jetzt mehr der ganzen Frauenbewegung entgegenbrachte, so fühlte sie als Weib sich doch über den überlegenen Ton gekränkt, womit man ihre Mitschwestern abfertigte. Wie kleine Pensionsgänse, dachte sie ärgerlich. Wo fiele es z.B. einem Berichterstatter ein, die Gesichter und Anzüge der Herren im Reichstag zu schildern. »Der reizende Miquel stellte den Antrag« oder: »Bamberger trug wieder einen seiner bekannten eleganten Anzüge« oder: »von Kardorffs liebliches Organ schmeichelte sich in die Herzen der Zuhörer«. Hildegard schob die Zeitungen weg, bezahlte und ging hinaus.

Ein kühler Wind fegte durch die Straßen, der Herbst kündigte sein Nahen an.[96]

Ein von Stunde zu Stunde sich steigerndes Bangen bemächtigte sich der jungen Frau; die Einsamkeit, die große Erweckerin, hatte sie in ihre Arme genommen. Das meist ganz irrig angeschaute Ideal der unzufriedenen Frau aus dem geistigen Mittelstande hatte sich bei näherer Betrachtung als große hübsche Wachspuppe gezeigt. Es war kein Leben, keine Entwickelung in ihm. Die Männer bekriegten es nicht einmal, sie begegneten ihm scherzhaft. Und die Frauen? Glaubten sie im letzten Grunde das, von dem sie in so tönender Uberzeugung sprachen? War es ihnen nicht eigentlich mehr um eine Abwechslung, eine »Zerstreuung« zu thun?

Mehrere, deren Privatinteressen vielleicht durch einige Veränderungen z.B. des Gesetzbuches gefördert worden wären, wünschten diese lebhaft. Aber aus rein idealen Gründen, ohne Seitenblick auf die Förderung des eigenen Interesses, stand wol keine der Frauen in der Bewegung. So entpuppte sich ein Ideal Hildegards. Und das andere: die Freiheit? Sie grübelte darüber nach. Was bedeutet dieser Begriff für die Frau? Ist nicht die Liebe und das Opfer ihre Freiheit? Ohne diese beiden zu leben, heißt für sie: Verbannung, Trostlosigkeit, Öde. Manches Weib erkennt dies erst zu spät, wenn sein Irrtum die Wege zerstört hat, die nach der Heimat ihres Glückes: dem Herzen des Mannes geführt haben. Hildegard zitterte davor, daß vielleicht auch sie zu diesen Verspäteten gehöre.[97] Und dann fiel ihr ein, wie unschlau die meisten Männer seien. Weshalb schicken sie nicht die unzufriedene Frau für ein Jahr oder länger fort? Weshalb widerstreben sie den romanhaften Wünschen und Plänen der Gattin? Ließen sie sie doch ziehen! Gäbe es ein besseres Mittel, sie schleunigst zurückkehren zu machen? .... Der Mann kann nicht so viel reden wie die Frau, deshalb ist er ihr gegenüber immer im Nachteil. Freilich, deshalb behält er sich auch, während das Weib sich ausgiebt. Diese Schweigsamkeit ist der Boden der That, aber wie viele von den Frauen verstehen das Beste am Manne?

Wach, von tausend Gedanken bewegt, verbrachte Hildegard die Nacht.

Auch am nächsten Morgen kam kein Brief. Frau Wallner kannte ihren Gatten zu genau, um nicht zu wissen, daß ihm alles Kleinliche fern lag. Aus Trotz schwieg er nicht. Er benützte auch sein Übergewicht als der Verdienende nicht, um ihr zu zeigen, wohin sie ohne seine Hülfe kam. Es mußte ihm irgendetwas zugestoßen sein. Entweder war er schwer krank, oder – Sie schauerte. Unter Thränen flehte sie zu Gott, daß er sie ihren Irrtum nicht so schwer büßen lasse. Nie hätte sie geahnt, daß ihre Seele, während sie diesem Manne Kummer auf Kummer bereitete, doch mit der seinen verwachsen war. Mechanisch trieb sie sich draußen herum. Hätte sie die Mittel zur sofortigen Abreise besessen! So[98] hieß es ausharren. Sie ging nach der Pomona, wo ihr Fräulein Kampfmann mitteilte, daß für den nächsten Monat eine Frauenversammlung anberaumt wäre, zu der auch das Ausland seine berufensten Vertreterinnen senden wolle. Für die Dauer des Kongresses seien acht Tage bestimmt. Es hätten sich hundertvierunddreißig Rednerinnen zum Wort gemeldet. Hildegard hörte zerstreut zu und ging bald nach Hause. Die erwünschte Nachricht war noch immer nicht eingetroffen. Auch der nächste Tag verstrich ohne Erfolg. Nun verließ Hildegard das Haus nicht mehr. Der nagenden Verzweiflung hingegeben, kauerte sie in einer Ecke des dunklen Hofzimmers und wartete und wartete.

Und noch zwei weitere Tage vergingen. Länger ertrug sie es nicht mehr. Sie wollte sich Frau von Werdern zu Füßen werfen und sie beschwören, ihr das notwendigste Geld vorzustrecken. Verweigerte sie es, so wollte sie an ihre Freundinnen schreiben, oder an den Pfarrer ihrer Gemeinde. Scheiterte alles, dann – dann würde sie sich einfach durchbetteln. Aller Stolz, alle Härte, alles falsche Selbstbewußtsein war geschmolzen in der Glut ihrer reuigen Liebe.

Eben als sie mit entschlossenem Gesichte sich erhob, um den Beginn ihrer Kreuzwege zu machen, klingelte es, und der Postbote erschien. Zitternd spähte sie nach den Schriftzügen auf dem Couvert. Sie waren von[99] ihrem Gatten. Er lebte also, er lebte. Sie öffnete den Brief. Achtlos schob sie die Geldnoten, die zusammengefaltet zwischen den Blättern lagen, neben sich und las.

»Meine liebe Hildegard!

Wenn du diese Zeilen erhältst, bin ich schon aus aller Gefahr und der Todesengel ist gnädig an unserm Hause vorübergezogen. Ich war sehr schwer erkrankt und hatte nicht wenig Mühe gehabt, den Arzt von seinem Vorhaben abzubringen, dich hierher zu rufen. Ich wollte dich nicht erschrecken und störend in deine Pläne eingreifen. Um dich nichts von meinem Erkranktsein merken zu lassen, durfte ich dir aber auch durch keine fremde Hand schreiben lassen. Ich selbst konnte keinen Finger bewegen. So mußtest du denn warten, meine arme Hildegard.

Möge dir die Verzögerung der Geldsendung keine unangenehmen Folgen gebracht haben. Und knausere nicht allzusehr. Wenn deine Börse wieder frischer Füllung bedarf, lasse es mich wissen. Sei herzlich gegrüßt!

Einhart Wallner.«


Wieder und wieder las sie den Brief. Wenig Worte und ein ganzes volles Herz. So war der Mann, der geschrieben hatte. Sein Stolz hatte den heißen Schrei seiner Sehnsucht nach ihr verstummen gemacht. Aber seine Güte gegen sie war offengeblieben. Jetzt, wo sie halb ertrunken war in dem Meer von Phrasen, die sie[100] angehört hatte, schien ihr die Wortkargheit die lauteste Beredsamkeit zu besitzen. Jetzt begriff sie sein Schweigen bei all ihrem Beginnen. Es hatte ohne Worte zu ihr gesprochen. Und nun verstand sie ihn. –

Sie schob die Geldnoten in die Börse.

Ihr Reisegeld! Dann packte sie ihre paar Habseligkeiten zusammen. Heute noch zu ihm, jubelte es in ihr. Plötzlich ergriff sie ein Bangen. Wie wenn die Besserung eine Scheinbesserung gewesen war und sie ihn schwer krank antraf? Wenn er sie gar nicht erkannte? Wenn er tot war? Gab es nicht genug Fälle dieser Art, wo nach einer anscheinenden Besserung plötzlich eine Wendung zum Schlimmsten eingetreten war? Und dazu kannte sie nicht einmal die Natur seiner Krankheit. Sie warf ihre Sachen flüchtig in den Reisekoffer, eilte hinab und winkte eine Droschke herbei. Die wichtigsten Kommissionen wurden besorgt, zuletzt fuhr sie vor das Geschäft, in dem Fräulein Schulze thätig war. Sie teilte ihr mit einigen Worten den Sachverhalt mit und verabschiedete sich von ihr.

Gegen Abend fuhr sie nach dem Bahnhof. Hier mußte sie einige Stunden warten, bis der Zug abging, der sie nach der Heimat brachte. Sie benützte die Zeit und schrieb an ihre Bekannten hier einige Abschiedszeilen. Dann begann sie ungeduldig im Wartesaal auf und nieder zu schreiten, die Augen fast unverwandt auf[101] die große Uhr über dem Eingang gerichtet. Endlich war es so weit. Die dampfende Lokomotive setzte sich schnaubend an die Spitze des Zuges. Der Schaffner forderte zum Einsteigen ein. Sie erhielt ein Coupé für sich allein. Als der Zug aus der Bahnhofshalle glitt, schloß sie die Augen und drückte sich still in eine Ecke. Aus dem Irrtum hatte sie Gott befreit, würde er sie nun auch noch vor der herbsten Qual behüten? Würde sie die Erkenntnis nicht durch schweres Leid bezahlen müssen. Sollte sies besser haben, als so viele Andere?

Eigentlich wagte sies kaum zu hoffen. Und doch sagte sie sich wieder, erst in der Stunde, da der Mensch erkennen gelernt hat, übernimmt er die Verantwortung für sein Thun. Und sie war bisher wie eine Blinde hingegangen – nur ganz von Instinkten geleitet: das echte Weib, das Weib des geistigen Mittelstandes, in dem brave Eltern ängstlich jede Eigenart zu unterdrücken suchen, bis es, um über die eigene Banalität hinwegzukommen, später der ersten besten Verrücktheit, zur Beute fällt, die gerade im Schwang ist.[102]

Quelle:
Maria Janitschek: Die Amazonenschlacht, Leipzig 1897, S. 94-103.
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