Einundfunfzigster oder 3[386] ter Freuden-Sektor

Sonntagmorgen – offne Tafel – Gewitter – Liebe


Welch ein Sonntag! – Heut ist Montag. Ich weiß kein Mittel, mich, der ich (wie wir alle durch unser Isolieren) ein Freuden-Elektrophor geworden, auszuladen als durch Schreiben, ich müßte denn tanzen. Gustav hör' ich herüber: der hat zum Auslader einen Flügel und spielt ihn. Der Flügel wird mir diesen Sektor sehr erleichtern und mir manchen funkelnden Gedanken zuwerfen. Ich hab' mir oft gewünscht, nur so reich zu werden, daß ich mir (wie die Griechen taten) einen eignen Kerl halten könnte, der so lange musizierte, als ich schriebe. – Himmel! welche opera omnia sprössen heraus! Die Welt erlebte doch das Vergnügen, daß, da bisher so viele poetische Flickwerke (z.B. die Medea) der Anlaß zu musikalischen Meisterwerken waren, sich der Fall umkehrte und daß musikalische Nieten poetische Treffer gäben. –

Vor Tags machten wir uns gestern aus dem Bette, ich und mein musikalischer Souffleur. »Wir müssen«, sagt' ich zu ihm, »vier volle Stunden draußen herumjagen, eh' wir in die Kirche gehen« – nämlich nach Ruhestatt, wo der vortreffliche Herr Bürger aus Großenhayn1 als Gastprediger auftreten sollte. Alles geschah. Bis[386] diese Stunde weiß ich nicht, zieh' ich eine laue Sommernacht oder einen kalten Sommermorgen vor: in jener rinnt das zerschmolzene Herz in Sehnen auseinander; dieser härtet das glühende zur Freude zusammen und stählet sein Schlagen. Unsere vier Stunden zu palingenesieren – müßte man aus hundert Lust- und Jagdschlössern die Minuten dazu zusammentragen, und es hinkte doch. Die Morgendämmerung ist für den Tag, was der Frühling für den Sommer ist, wie die Abenddämmerung für die Nacht, was der Herbst für den Winter. Wir sahen und hörten und rochen und fühlten, wie allmählich ein Stückchen vom Tag nach dem andern aufwachte – wie der Morgen über Fluren und Gärten zog und sie wie vornehme Morgenzimmer mit Blüten und Blumen räucherte – wie er sozusagen alle Fenster öffnete, damit ein kühlender Luftzug den ganzen Schauplatz durchstriche – wie jede Kehle die andre weckte und sie in die Lüfte und Höhen zog, um mit trunkner Brust der steigenden vertieften Sonne entgegenzufliegen und entgegenzusingen – wie der bewegliche Himmel tausend Farben rieb und verschmolz und den Faltenwurf seiner Wolken versuchte und färbte .... So weit war der Morgen, da wir noch im tauenden Tale gingen. Aber als wir aus seiner östlichen Pforte hinaustraten in eine unabsehliche, mit wachsenden Girlanden und regem Laubwerk musivisch ausgelegte Aue, deren sanfte Wellenlinie in Tiefen fiel und auf Höhen floß, um ihre Reize und Blumen auf und nieder zu bewegen; als wir davor standen: so erhob sich der Sturm der Wonne und des lebenden Tages und der Ostwind ging neben ihm und die große Sonne stand und schlug wie ein Herz am Himmel und trieb alle Ströme und Tropfen des Lebens um sich herum. – –

Gustav spielt eben sanfter, und seine Töne halten meinen noch immer leicht in hypochondrische Heftigkeit übergehenden Atem auf. –

Als jetzt die Mühle der Schöpfung mit allen Rädern und Strömen rauschte und stürmte: wollten wir in süßer Betäubung kaum gehen, es war uns überall wohl; wir waren Lichtstrahlen, die jedes Medium aus ihrem Wege brach; wir zogen mit der Biene und Ameise und verfolgten jeden Wohlgeruch bis zu seiner Quelle[387] und gingen um jeden Baum; jedes Geschöpf war ein Pol, der unsere Nadel zu Abbeugungen und Einbeugungen lenkte. Wir standen in einem Kreis von Dörfern, deren Wege alle mit fröhlichen Kirchgängern zurückkamen und deren Glocken die geistige Messe einläuteten. Endlich zogen wir auch der wallfahrtenden Andacht nach und zur Kirchtür der kühlen Ruhestätter Kirche hinein.

Wenn ein Maitre de plaisirs einem Fürsten eine Operndekoration vorschlüge, die aus einer aufziehenden Sonne, tausend Leipziger Lerchen, zwanzig läutenden Glocken, ganzen Fluren und Floren von seidnen Blumen bestände: so würde der Fürst sagen, es kostete zu viel – aber der Freudenmeister sollte versetzen: einen Spaziergang kostets – oder eine Krone, sag' ich, weil zu einem solchen Genuß nicht der Fürst, sondern der Mensch zulangt.

In der Kirche ließ ich mich auf dem Orgelstuhl nieder, um die plumpe Orgel zu kartätschen zum Erstaunen der meisten Seelen. Als Gustav in eine adelige Loge trat, saß in der gegenüberstehenden – Beata; denn eine Predigt war ihr so lieb als einer andern ein Tanz. Gustav bückte sich mit niederfallenden Augen und aufströmender Röte vor ihr und war tief gerührt über die blasse gekränkte Gestalt, die sonst vor ihm geglühet hatte – sie wars gleichfalls von der seinigen, auf der sie alle traurige Erinnerungen las, die in ihre oder seine Seele geschrieben waren. Ihre vier Augen zogen sich vom Gegenstand der Liebe zu dem der Aufmerksamkeit zurück, auf Herrn Bürger aus Großenhayn. Er fing an; ich hatte als zeitiger Organist vor, gar nicht auf ihn acht zu geben – ein Kantor macht sich aus einer Predigt so wenig wie ein Mann von Ton –; allein Herr Bürger predigte mir mit den ersten Worten das Choralbuch aus der Hand, worin ich lesen wollte. Er trug die Vergebung der menschlichen Fehler vor – wie hart die Menschen auf der einen, und wie zerbrechlich sie auf der andern Seite wären; wie sehr jeder Fehler sich ohnehin am Menschen blutig räche und gleich einem Nervenwurme den durchfresse, den er bewohne, und wie wenig also ein anderer das Richteramt der Unversöhnlichkeit zu verwalten habe; wie wenig es Verdienst habe, Unvorsichtigkeiten, kleine oder zu entschuldigende Fehler zu vergeben, und wie sehr alles Verdienst auf Übersehung solcher[388] Fehler, die uns mit Recht erbitterten, ankomme etc. Da er endlich auf das Glück der Menschenliebe zeigte: so ruhte das brennende und strömende Auge Gustavs unbewußt auf Beatens Antlitz aus; und als endlich ihre Augen sich, dem Pfarrer zugekehrt, mit der wahren Kummer- und Freuden-Auflösung anfüllten und als sie unter dem Abtrocknen sie auf Gustav wandte: so öffneten sie sich einander ihre Augen und ihr Innerstes; die zwei entkörperten Seelen schaueten groß ineinander hinein, und ein vorüberfliegender Augenblick des zärtlichsten Enthusiasmus zauberte sie an den Augen zusammen .... Aber plötzlich suchten sie wieder den alten Ort, und Beata blieb mit ihren an der Kanzel.

Ich kanns nicht behaupten, ob er, Herr Bürger, diese nützliche Predigt schon unter seine gedruckten getan oder nicht; gleichwohl soll mich dieses Lob nicht hindern zu gestehen, daß seinen an sich guten Predigten eigentliche Kraft einzuschläfern vielleicht fehle, ein Fehler, den man sowohl beim Lesen als beim Hören wahrnimmt. Hier will ich zum Besten andrer Geistlichen einige Extraseiten über die falsche Bauart der Kirchen einschichten.


Extraseiten über die falsche Bauart der Kirchen

Ich hab' es schon dem Konsistorium und der Bauinspektion vorgetragen; aber es verfängt nichts. Wir und sie wissen es alle, daß jede Kirche, eine Kathedral-Kirche so gut als ein Filial, für den Kopf oder das Gehirn der Diözes zu sorgen habe, d.h. für den Schlaf derselben, weil nach Brinkmann jenes nichts so stärkt als dieser. Es wäre lächerlich, wenn ich mich hersetzen und erst lange ausführen wollte, daß dieser desorganisierende Schlaf auf eine wohlfeilere Art und für weniger Pfennige und Opium als bei den Türken zu erregen steht; denn unser Opium wird wie Quecksilber äußerlich eingerieben und hauptsächlich an den Ohren angelegt. Nun ist niemand so gut wie mir bekannt, was man in der ganzen Sache schon getan. Wie man in Konstantinopel (nach de Tott) besondere Buden und Sitze für die Opiumesser, aber nur neben den Moscheen hat: so sind sie bei uns darin und heißen Kirchenstühle. – Ferner brennen ordentliche Nachtlichter auf dem[389] Altar. Die Fensterscheiben haben in katholischen Tempeln Glasgemälde, die so gut wie Fenstervorhänge Schatten geben. Zuweilen sind die Pfeiler so geordnet oder vervielfältigt, daß sie zur kirchlichen Dunkelheit mithelfen, die der Zweck des Schlafens so sehr begehrt. Da die Schlafzimmer in Frankreich lauter matte glanzlose Farben haben: so ist in dem großen kanonischen Schlafzimmer wenigstens insofern für den Schlaf gesorgt worden, daß doch die Teile der Kirche, auf die das Auge sich am meisten richtet, Altar, Pfarrer, Kantor und Kanzel, schwarz angestrichen sind. Man sieht, ich unterdrücke keinen Vorzug, und es ist nicht Tadelsucht, wenn ich tadele. –

Aber es fehlet einem Tempel noch viel zu einem wahren Dormitorium. Ich stand (ich könnt' auch sagen: ich lag) in Italien und auch in Paris in mehren Theaterlogen, die vernünftig eingerichtet und möbliert waren: man konnte darin (weil alles dazu da war) schlafen, spielen, pissen, essen und mehr ...... Man hatte seine Freundinnen mit. Das haben nun die Großen gewohnt; wie will man ihnen ansinnen, sie sollen in die Kirche fahren und darin schlafen, da ihnen ihr Geld eher alle Freuden als den Schlaf verschafft? – Beim tiers état, beim Bauer und Bürger, selber beim Bürgermeister-Kollegium, das sich die ganze Woche matt votiert, ists kein Wunder, sondern freilich leicht dahin zu bringen, daß sie leicht auf jedem Stuhl, auf jeder Empor entschlafen; ich leugn' es nicht; aber der Libertin, der Schläfer auf Eiderdunen, wird euch (und predigte ein Konsistorialrat) auf keinem bloßen Sessel schlafen; er geht daher lieber in keine Kirche. Für solche Leute von Ton müssen daher ordentliche Kirchenbetten in den Logen aufgeschlagen werden, damit es geht; so wie auch Spieltische, Eßtische, Ottomanen, Freundinnen u. dergl. in einer Hofkirche so unentbehrliche Dinge sind, daß sie besser an jedem andern Orte mangeln könnten als da.

Man kann es also, ohne mich und die Wahrheit zu beleidigen, kein Schmeicheln nennen, wenn ich verfechte, daß bloß die dumme Kirchen-Architektur und der Mangel alles Haus- und Kirchengeräts, aller Betten etc. daran schuld sind, nicht aber die gut und philosophisch oder mystisch ausgearbeiteten Predigten geschickter[390] Hof-, Universität-, Kasernen- und Vesper-Prediger, wenn die Leute von Stand weit weniger darin schlafen können, als man sich verspricht.


Ende der Extraseiten


Nach der Kirche trafen wir alle an der Sakristei zusammen. Ich gehe über Kleinigkeiten hinweg und komme sogleich dazu, daß wir sämtlich abzogen und daß Gustav unserer schönen Dauphine den Arm gab und nahm. Es war ein ruhiges Wandeln unter der festlichen Sonne und unter den Blüten der Gebüsche hinweg. Der Putz, die getäfelte Stirn, die wie Fiedelbogen-Haare hinübergespannten Stirn-Haare, die wie Zwiebelhäute übereinander liegenden Röcke des weiblichen Bauerstandes malten samt dessen anlachendem Angesicht uns den Sonntag heller vor, als alle halbe und ganze Parüren der Städterinnen können. Auch find' ich am Sonntage viel schönere Gesichter als an den sechs Werkeltagen, die alles im Schmutz vermummen.

Das Gespräch mußte gleichgültig bleiben – ich denke, selbst beim Vergißmeinnicht. Beata sah nämlich eines im Grase liegen und eilte hinzu und – da wars von Seide. »O ein falsches«, sagte sie. »Nur ein gestorbnes,« sagte Gustav, »aber ein dauerhaftes.« Unter Personen von einer gewissen Feinheit wird leicht alles zur Anspielung! Wohlwollen ist ihnen daher unentbehrlich, damit sie an keine andern Anspielungen als an gutmütige glauben. – Ich labte mich unter dem ganzen Wege am meisten daran, daß ich der Hintergrund und der Rückenwind war, der hintennach ging; denn wär' ich vorausgezogen, so hätt' ich den schönsten Gang nicht gesehen, in dem sich noch die schönste weibliche Seele durch ihren Körper zeichnete – Beatens ihren. Nichts ist charakteristischer als der weibliche Gang, zumal wenn er beschleunigt werden soll.

Im Tal fanden wir außer dem Schatten und Mittage noch etwas Schöneres, den Doktor Fenk. Er hatte ein kleines Speise-Concert spirituel unter den Bäumen angeordnet, wo wir alle wie Fürsten und Schauspieler offne Tafel, aber vor lauter satten musikalischen[391] Zuschauern, vor den Vögeln, hielten. Wir hatten nichts darwider, daß zuweilen eine Blüte in den Tunknapf, oder in das Essiggestell ein Blättchen flatterte, oder daß ein Lüftchen das Zuckergestöber aus der Zuckerdose seitwärts wegblies; dafür lag der größte plat de ménage, die Natur, um unsern freudigen Tisch herum, und wir waren selber ein Teil des Schaugerichts. Fenk sagte und spielte mit einem herabgezognen Aste: »unser Tisch hätte wenigstens den Vorzug vor den Tischen in der großen Welt, daß die Gäste an unserem einander kennten; die Großen aber, z.B. in Scheerau oder Italien, speiseten mehr Menschen, als sie kennen lernten; wie im Fette des Tieres, das von den Juden so sehr verabscheuet und nachgeahmet würde, Mäuse lebten, ohne daß das Tier es merkte.«

Ein Arzt sei noch so delikat im Ausdruck: er ists doch nur für Ärzte.

Unter dem Kaffee behauptete mein lieber Pestilenziar, alle Kannen – Kaffee-, Schokolade-, Teekannen –, Krüge etc. hätten eine Physiognomie, die man viel zu wenig studiere; und wenn Melanchthon der Missionär und Kabinettprediger der Töpfe gewesen, so fehle noch ein Lavater derselben. Er habe einmal in Holland eine Kaffeekanne gekannt, deren Nase so matt, deren Profil so schal und holländisch gewesen wäre, daß er zum Schiffarzt, der mitgetrunken, gesagt, in dieser Kanne säße gewiß eine ebenso schlechte Seele, oder alle Physiognomik sei Wind: – da er eingeschenkt hatte, so war das Gesöff nicht zum Trinken. Er sagte, in seinem Hause werde kein Milchtopf gekauft, den er nicht vorher, wie Pythagoras seine Schüler, in physiognomischen Augenschein nehme.

»Wem haben wirs zuzuschreiben,« fuhr er in humoristischem Enthusiasmus fort, »daß um unsere Gesichter und Taillen nicht so viele Schönheitlinien als um die griechischen beschrieben sind, als bloß den verdammten Tee- und Kaffeetöpfen, die oft kaum menschliche Bildung haben und die doch unsere Weiber die ganze Woche ansehen und dadurch kopieren in ihren Kindern? – Die Griechinnen hingegen wurden von lauter schönen Statuen bewacht, ja die Sparterinnen hatten die Bildnisse schöner Jünglinge sogar in ihren Schlafzimmern aufgehangen.« – –[392]

Ich muß aber zur Rechtfertigung von vielen hundert Damen sagen, daß sie dafür ja das nämliche mit den Originalen tun und daß damit auch schon etwas zu machen ist. –

Da ich in diesem Familien-Schauspiel für keine Göttin Achtung habe als für die der Wahrheit: so kann ich sie auch meiner Schwester nicht aufopfern, obgleich ihr Geschlecht und ihre Jugend sie noch unter die Göttinnen stellen. Es ärgert mich, daß sie zu wenig Stolz und zu viel Eitelkeit ernährt. Es ärgert mich, daß es sie nicht ärgern wird, sich hier gedruckt und getadelt zu lesen, weil ihr mehr am Gewinst der Eitelkeit durch den Druck als am Verlust des Stolzes durch den Tadel gelegen ist.

Stolz ist in unserem kriegslistigen Jahrhundert der treueste Schutzheilige und Lehns-Vormund der weiblichen Tugend. Niemand wird zwar von mir fodern, die Damen von meiner Bekanntschaft öffentlich zu nennen, die gewiß wie Mailand 40 mal (nach Keißler) wären belagert und 20 mal erobert worden, wären sie nicht brav stolz gewesen, ja wäre nicht eine davon an einem Abende voll Tanz zweiundeinhalbmal stolz gewesen; aber nennen könnt' ich sie, wollt' ich sonst.

Du lehrest mich, liebe Philippine, daß die edelsten Gefühle nicht immer die Gefallsucht ausschließen und daß ich außer dem Geschäfte, dich zu lieben, kein besseres haben kann als das, dich zu schelten – und deinen Medizinalrat Fenk auch, der gegen dich seiner sorgenlosen Laune zu weit nachhängt: zum Glück ist sie noch im Alter, wo Mädchen allemal den lieben, den sie am längsten gesprochen, und wo ihr Herz wie ein Magnet das alte Eisen fallen lässet, wenn man ein neues daran bringt.

Beata und Gustav berührten einander die wunden Stellen wie zwei Schneeflocken; sogar in der Stimme und der Bewegung schilderte sich zärtliches, schonendes, ehrliebendes, aufopferndes Ansichhalten. O wenn die Weigerungen der Koketterie schon so viel geben: wie viel müssen erst die gegenwärtigen der Tugend geben!

Der Nachmittag war auf den Flügeln der Schmetterlinge, die neben uns ihre tiefern Blumen suchten, davongeeilet; die Gespräche nahmen wie die Augen an Interesse zu, und wir schlenterten[393] (oder schreibt mans mit einem weichen D?) auf der Allee-Terrasse hin, die den Berg wie ein Gürtel umwindet und auf der das Auge über die Einzäunungen des Tales in die Fluren hinübergehen kann. Gegen Westen rückte ein Gewitter mit seinem Donner-Tritt über den Himmel und hing sein Bahrtuch von schwarzem Gewölk über die Sonne. Die Gegend sah wie das Leben eines großen, aber nicht glücklichen Menschen aus; der eine Berg glühte vom Flammenblick der Sonne, der andre verdunkelte sich unter der niederfallenden Nacht einer Wolke – – drüben in der Abendgegend brauste im Himmel statt des Vogelgesangs das himmlische Pedal, der Donner, und in Reihen von weißen Wassersäulen riß sich der wärmende Regen vom Himmel los und füllte seine Blumenkelche und Gipfel wieder, aus denen er gestiegen war – es war der Seele so feierlich, als würde ein Thron für Gott errichtet, und alles wartete, daß er darauf niederstiege.

Gustav und Beata gingen, in den Himmel versunken, auf der Terrasse voraus; der Doktor, meine Schwester und ich in einer kleinen Ferne hinter ihnen. Endlich platzten auf dem Laube der Allee einzelne Regentropfen, die aus dem Saume der breiten Wetterwolke über uns flogen und fielen; – so bestreift ein donnerndes niederblitzendes Unglück der Nachbarschaft die entlegnen Länder nur mit einigen Tränen, die aus dem Auge des Mitleids entwischen. – Wir stellten uns alle unter die nächsten Bäume. Gustav und Beata standen seit vielen Monaten zum ersten Male wieder einsam nebeneinander, ohne Ohrenzeugen, obwohl neben Augenzeugen. Sie waren gegen Abend gekehrt und schwiegen. Es gibt Lagen, wo der Mensch sich zu groß fühlt, ein Gespräch heranzulenken, oder fein zu sein, oder Anspielungen zu machen. Beide verstummten fort, bis Gustav in der heißesten Sonnenwende seiner Empfindungen sich von der überschwemmten Abendgegend umkehrte zu Beatens Augen hin – ihre hoben sich langsam und unverhüllt zu seinen auf und der Mund unter ihnen blieb ruhig und ihre Seele war bei niemand als bei Gott und der Tugend.

Die Wolke war verronnen und verzogen. Der Doktor hatte heimzueilen. Niemand konnte aus seinem genießenden Schweigen heraus. So stumm waren wir alle die Terrasse hinunter gekommen[394] – und jedes war auch schon von seinem belaubten Regenschirme hinweg –, als auf einmal die tiefe Sonne die schwarze Wolkendecke durchbrannte und entzweiriß und den Leichenschleier des Gewitters weit zurückschlug und uns überstrahlte und die glimmenden Gesträuche und jeden feurigen Busch .... Alle Vögel schrien, alle Menschen verstummten – die Erde wurde eine Sonne – der Himmel zitterte weinend über der Erde vor Freude und umarmte sie mit heißen unermeßlichen Lichtstrahlen. –

Die Gegend brannte im himmlischen Feuerregen um uns; aber unsere Augen sahen sie nicht und hingen blind an der großen Sonne. Im Drang, das Herz von Blut und Freude loszumachen, versank Gustavs Hand in Beatens ihre – er wußte nicht, was er nahm – sie wußte nicht, was sie gab, und ihre gegenwärtigen Gefühle erhoben sich weit über geringfügige Versagungen. Endlich legte sich die umdonnerte Sonne wie ein Weiser ruhig unter die kühle Erde, ihr Abendrot ruhte glühend unter dem blitzenden Wetter, sie schien wie eine Seele zu Gott gegangen zu sein, und ein Donnerschlag fiel in den Himmel nach ihrem Tode ....

Es dämmerte .... die Natur war ein stummes Gebet .... Der Mensch stand erhabener wie eine Sonne darin; denn sein Herz faßte die Sprache Gottes .... aber wenn in das Herz diese Sprache kommt und es zu groß wird für seine Brust und seine Welt: so hauchet der große Genius, den es denkt und liebt, die stillende Liebe zu den Menschen in den stürmenden Busen, und der Unendliche lässet sich von uns sanft an den Endlichen lieben ....

Gustav empfand die Hand, die in seiner pulsierte und aus ihr herausstrebte – er hielt sie schwächer und sah in das schönste Auge zurück – seines bat Beaten unendlich rührend um Vergebung der vergangnen Tage und schien zu sagen: »O! nimm in dieser seligen Stunde auch meinen letzten Kummer weg!« – Als er nun leise mit einem Tone, der so viel war wie eine gute Tat, fragte: »Beata?« und als er nicht weitersprechen konnte und sie das errötende Angesicht zur Erde wandte und aufhörte, ihre Hand aus seiner zu ziehen, und tief gerührt wieder aufsah und ihm die Träne zeigte, die zu ihm sagte: »Ich will dir vergeben«: so wurden aus zwei[395] Seelen, die noch größer waren als die Natur um sie, zwei Engel, und sie fühlten den Himmel der Engel – sie standen und schwiegen, in unendliche Dankbarkeit und Entzückung verloren – er nahm endlich, zitternd vor hochachtender Freude, ihren bebenden Arm und erreichte uns.

Den Sabbat schlossen stille Gedanken, stille Entzückungen, stille Erinnerungen und ein stiller Regen aus allen entladenen Gewittern.

1

Seine vor einem Jahre gedruckten Predigten werden nach dem Geschmack eines jeden sein, der meinen hat.

Quelle:
Jean Paul: Die unsichtbare Loge, in: Jean Paul: Werke. Band 1, München 1970, S. 386-396.
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