9. Hundposttag

[613] Himmels-Morgen, Himmels-Nachmittag – Haus ohne Mauer, Bette ohne Haus


Ach der arme Bergmann, der Minierer im Steinsalz und der Insel-Neger haben in ihrem Kalender keinen solchen Tag, als hier beschrieben oder wiederholet wird! Sebastian stand Donnerstags[613] schon um 3 Uhr auf dem Flugbrett seines Bienenstocks, um in Großkussewitz in einem Tage anzulanden und wegzusein, eh' man auf war. Ein Leser, der einen Atlas unten auf dem Fußboden hat, kann unmöglich diesen Marktflecken, wo die Übergabe der Fürstenbraut vorgeht, mit einem Namenvetter von Dorf verwirren, den die Stadt Rostock zu ihrem unbeweglichen Vermögen geschlagen. Das ganze Haus hatte ihn leider so lieb, daß es schon eine halbe Stunde früher aus den Morgenfedern, woraus die größten Flügel der Träume gemacht werden, heraus war. Unter dem Getöse der Wagenketten, der Hunde und Hähne trennte er sein sanftes Herz von lauter liebenden Augen, und indem ihn das Klopfen des einen und das Erweichen der andern verdroß, wurde alles noch ärger; denn der äußere Lärm stillt den innern der Seele.

Draußen schwammen alle Grasebnen und Samenfelder im Tropfbad des Taus und im kalten Lufttal des Morgenwinds. Er wurde darin wie heißes Eisen gehärtet; ein Morgenland voll unübersehlicher Hoffnungen umzog ihn, er entkleidete seine Brust, warf sich brennend ins tropfende Gras, wusch sich (aber aus höhern Absichten als Mädchen) das feste Gesicht mit flüssigem Juniusschnee und trat, mit straffen Fibern bespannt, aus dem Tropfbad in den Anzug zurück – bloß Haar und Brust steckt' er in kein Gefängnis.

Er wäre gewiß eher abgegangen; aber er wollte dem Monde ausweichen, den er so wenig mit der Sonne gatten konnte als die Kinder von beiden, nämlich Nachtgedanken mit Morgengedanken. Denn wenn die Morgenwolken um den Menschen tauen, wenn die liebenden Vögel schreiend durch den Glanznebel schießen, wenn die Sonne aus der Wolkenglut vorschwillt: so drückt der erfrischte Mensch seinen Fuß tiefer in seine Erde ein und wächset mit neuem Lebens-Efeu fester an seinen Planeten an.

Langsam watete er durch einen niedrigen Haselstauden-Gang und streifte ungern ihre erkälteten Käfer ab; er hielt an sich und stand endlich, um sich zu verspäten, damit er nicht im nahen Wäldchen wäre, wenn gerade die Sonne ihr Theater betrat. Er hörte schon den musikalischen Wirrwarr im Wäldchen – Rosenwolken waren als Blumen in die Sonnenhahn gebreitet – die Warte[614] des Pfarrdorfs, dieser Hochaltar, worauf sein erster schöner Abend gebrannt, entflammte sich – die singende Welt der Luft hing jauchzend in den Morgenfarben und im Himmelblau – Funken von Wolken hüpften vom Goldbarren am Horizont empor endlich wehten die Flammen der Sonne über die Erde herein....

Wahrlich, wenn ich an jedem Abende den Sonnenaufgang malte und an jedem Morgen ihn sähe: ich würde doch wie Kinder rufen: noch einmal, noch einmal!

Mit betäubten Sehnerven und mit vorausschwimmenden Farbenflocken ging er langsam in den Wald wie in einen dunkeln Dom, und sein Herz wurde groß bis zur Andacht...

– Ich will nicht voraussetzen, daß mein Leser ein so prosaisches Gefühl für den Morgen habe, um dieses poetische unverträglich mit Viktors Charakter zu finden – ja ich darf seiner Menschenkenntnis zutrauen, daß sie wenig Mühe habe, zwischen solchen entlegnen Tonarten in Viktor, wie Humor und Empfindsamkeit sind, den Leitton auszufinden; ich will mich also unbesorgt dem frohen Anschauen seiner weichen Seele und dem Vertrauen auf fremden Einklang überlassen. –

Der Venusstern und ein Wald blühen am schönsten am Morgen und Abend; auf beide treffen dann die meisten Strahlen der Sonne. Daher war unserm Viktor im Walde, als ging' er durch die Pforte eines neuen Lebens, da er an diesem feurigen Morgen mit der Sonne, die neben ihm von Zweigen zu Zweigen flog, durch das brausende Gehölze, hinweg unter vollstimmigen Ästen, die ebenso viele bewegte Spiel-Walzen waren, über das im grünen Sonnenfeuer stehende Moos und unter dem ins himmlische Blau getauchten Tannengrün durchwankte. – Und an diesem Morgen erneuerte sich in seinem Herzen die schmerzhafte Ähnlichkeit von vier Dingen – von dem Leben, von einem Tage, einem Jahre, einer Reise, die einander gleichen im frischen Jubel-Anfang – im schwülen Mittelstück – im müden satten Ende. –

Draußen im Anfluge, im Hintergrund des Wäldchens, rollte vor ihm die Natur ihr meilenlanges Altarblatt auf mit den Hügel-Ketten desselben, mit seinen blendenden Landhäusern, die sich mit Gärten wie mit Fruchtschnüren putzten, und mit den Miniaturfarben[615] der Blümchen, die sich an der silbernen Schönheitlinie der Bäche bewegten. Und eine Wolke trunkner, spielender, schwirrender Kleinwesen aus Seidenstaub zog und hing über das wallende Gemälde her. – Welchen Weg sollte Viktor im Labyrinth der Schönheit nehmen? – Alle 64 Strahlen des Kompasses streckten sich als wegweisende Arme aus, und er hatte soviel Verstand, daß er sich keine Stunde vor setzte, um anzukommen – er wich daher überall rechts und links aus – er stieg in jedes Tal, das sich hinter einem Hügel versteckte – er besuchte die durchbrochnen Schattenwürfe jeder Baumreihe – er legte sich zu den Füßen einer schönern Blume nieder und erquickte sich mit reiner Liebe an ihrem Geiste, ohne ihren Körper abzuknicken – er war der Reisegefährte des gepuderten Schmetterlings und sah seinem Einwühlen in seine Blume zu, und der Grasmücke folgte er durch Gebüsche in ihre Brutzelle und Kinderstube nach – er ließ sich festmachen durch den Kreis, den eine Biene um ihn zog, und ließ sie ruhig in den Schacht seines eignen Blumenstraußes einschlagen – er übte in jedem Dorfe, das ihm der bunte Grund vorhielt, die Durchganggerechtigkeit und begegnete am liebsten den Kindern, deren Tage noch so spielten wie seine Stunden – –

Aber Menschen vermied er....

Und doch sprang aus seinem Herzen eine hohe Quelle der Liebe, die bis zum entferntesten Bruder drang; und doch war er so sehr ohne Ichsucht, so ohne jene empfindsame Intoleranz, die den Grad und die Quelle mit der herrnhutischen gemein hat. – – Der Grund aber war der: der erste Tag einer Reise war ganz anders als der zweite, dritte, achtzigste. Denn am zweiten, dritten, achtzigsten war er prosaisch, humoristisch, gesellig, d.h. sein Herz hing sich wie gehäkelter Same überall an und schlug die Wurzeln seines Glücks in jedem fremden Schicksal ein. Aber am ersten Tage kamen verhüllte Geister aus alten Stunden in seine Seele, welche verschwanden, wenn ein Dritter sprach – eine sanfte Trunkenheit, die ihm der Dunstkreis der Natur wie der eines Weinlagers mitteilte, legte sich wie eine magische Einsamkeit um seine Seele... Warum will ich aber den ersten Tag schildern, eh' ich ihn schildere?[616]

In den ersten Stunden der Reise war er heute frisch, froh, glücklich, aber nicht selig; er trank noch, allein er war nicht trunken. Aber wenn er so einige Stunden mit schöpfendem Auge und saugendem Herzen gewandelt war durch Perlenschnüre betaueter Gewebe, durch sumsende Täler, über singende Hügel, und wenn der veilchenblaue Himmel sich friedlich an die dampfenden Höhen und an die dunkeln, wie Gartenwände übereinander steigenden Wälder anschloß; wenn die Natur alle Röhren des Lebenstromes öffnete, und wenn alle ihre Springbrunnen aufstiegen und brennend ineinander spielten, von der Sonne übermalt: dann wurde Viktor, der mit einem steigenden und trinkenden Herzen durch diese fliegenden Ströme ging, von ihnen gehoben und erweicht; dann schwamm sein Herz bebend wie das Sonnenbild im unendlichen Ozean, wie der schlagende Punkt des Rädertiers im flatternden Wasserkügelchen des Bergstroms schwimmt. – –

Dann lösete sich in eine dunkle Unermeßlichkeit die Blume auf, die Aue und der Wald; und die Farbenkörner der Natur zergingen in eine einzige weite Flut, und über der dämmernden Flut stand der Unendliche als Sonne, und in ihr das Menschenherz als zurückgespiegelte Sonne. – –

Alles ward eins – alle Herzen wurden ein größtes – ein einziges Leben schlug – die grünenden Bilder, die wachsenden Bildsäulen, der Staubklumpe des Erdballs und die unendliche blaue Wölbung wurden das anblickende Angesicht einer unermeßlichen Seele – –

Er mochte immerhin die Augen zuschließen: in seiner dunkeln Brust ruhte noch diese blühende Unendlichkeit. – –

Ach wenn er sich in die Wolken hätte hinaufstürzen können, um auf ihnen durch den wehenden Himmel über die unübersehliche Erde zu ziehen! – Ach wenn er mit dem Blütendufte hätte über die Blumen hinüberrinnen, mit dem Winde über die Gipfel, durch die Wälder hätte strömen können! – O jetzt wär' er einem großen Menschen lieber an das Herz gefallen und trunken und weinend in seinen Busen versunken, um zu stammeln: »Wie glücklich ist der Mensch!«

Er mußte weinen, ohne zu wissen worüber – er sang Worte ohne Sinn, aber ihr Ton ging in sein Herz – er lief, er stand – er[617] tauchte das glühende Angesicht in die Wolke der Blütenstauden und wollte sich verlieren in die sumsende Welt zwischen den Blättern – er drückte das zerritzte Angesicht ins hohe kühlende Gras und hing sich im Taumel an die Brust der unsterblichen Mutter des Frühlings.

Wer ihn von weitem sah, hielt ihn für wahnsinnig; vielleicht jetzt mancher noch, der es nie selber erfahren hat, daß durch die ausgehellte selige Brust, wie durch den heitersten Himmel, Sturmwinde ziehen können, die in beiden in Regen zerfließen.

In dieser Tagzeit seines Wiedergeburt-Tages gab sein Genius seinem Herzen die Feuertaufe einer Liebe, die alle Menschen und alle Wesen in ihre Flammen fassete. – Es gibt gewisse köstliche Wonne-Minuten – ach warum nicht Jahre? –, wo eine unaussprechliche Liebe gegen alle menschliche Geschöpfe durch dein ganzes Wesen fließet und deine Arme sanft für jeden Bruder auftut. – Das wenigste war, daß Viktor, dessen Herz in der Sonnenseite der Liebe war, jedem, der ihm neben einem Berge aufstieß, gegen die steile Seite auswich – daß er vor keinem, der angelte, vorüberging, um keinen verscheuchenden Schatten ins Wasser zu werfen – daß er langsam durch Schafe wanderte und vor dem Kinde, das ihn scheuete, einen Umweg nahm. – Nichts ging über die sanfte Stimme, womit er jedem Pilgrim mehr als diesen glücklichen Morgen wünschte; nichts über den vorausgerührten Blick, womit er in jedem Dorfe die arme Haut, deren Schwielen und Narben und Schnittwunden einen Blutschwamm oder schmerzenlindernden Tropfen nötig hatten, auskundschaften wollte. »Ach ich weiß es so gut als ein Famulus bei einem Professor der Moral,« (sagt' er zu sich) »daß es keine Tugend, sondern nur eine Wollust ist, die Dornenkrone von einer zerritzten Stirne, den Stachelgürtel von wunden Nerven wegzunehmen; aber diese unschuldige Freude wird man mir doch vergönnen, und da auf so vielen Wegen zersplitterte Menschen liegen, warum streckt auf meinem keiner seine Hand aus, damit ich etwas hineinlegen könnte für diesen unverdienten Himmel in meiner Brust?«

Er wollte seine Freude einem fremden Herzen zum Kosten entgegentragen, wie die Biene ihren Mund voll Honig in die Lippen[618] einer andern übergibt. Endlich keuchten zwei Kinder daher, davon eines als Zugvieh an einem Schiebekarren angestrickt war, und das andere vornen als schiebender Fuhrmann nachgespannt. Der Karren war mit sechs löcherichten Säcken voll Tannenzapfen befrachtet, die das arme Gespann zu einem schwindsüchtigen Feuer zusammenfuhr. Beide vertauschten häufig ihre Ämter, um es auszudauern; und der Fuhrmann wollte immerfort sogleich wieder der Gaul werden. »Ihr guten Kinder! kann denn nicht euer Vater schieben?« – »Der Baum hat ihm die zwei Beine entzweigeschlagen.« – »So könnte doch euer großer Bruder in den Wald?« – »Er muß dort brachen.« – Viktor stand am Brachacker neben einem Wams mit ebensoviel Farben als Löchern und neben einem schmutzigen Brotsack, welches beides dem Bruder angehörte, der in der Ferne mit einem halben Postzug magerer Kühe auf der Bühne dieses Auftritts ackerte. – – Eine volle Hand, die sich in den Schoß des Elends ausleerte, machte Viktors schwere Seele leichter, wie das volle Auge, das sich jener nachergoß; sein Gewissen, nicht sein Eigennutz war sein Einwender gegen die Größe seiner Gabe – er gab sie doch, aber in kleinen Münzsorten – die Kinder verließen ihre Kaufmannsgüter, und das eine lief über das Feld hinüber zum Pfluge und das andre ins Dörfchen hinab zur Mutter. – Der Ackermann zog in der Ferne den Hut ab – wollte laut danken, konnte sich aber nur schneuzen – ackerte ohne Hut heran – aber als er dem Jüngling den Dank nachrief, war dieser schon weit aus dem Gehör-Kreise hinausgeflüchtet...

– Wünsche, lieber Leser, nicht diesen oder den kommenden Zwischenakt des Menschengrams aus den großen Auftritten der glücklichen Natur heraus, und dein Herz verdiene wie Viktor durch Gehen das Nehmen! –

Er kam in seiner gutherzigen Eile bald einem fieberkranken Schmiedegesellen nach, dessen Reisekoffer oder Mantelsack ein angefülltes Schnupftuch war; am Stecken trug er noch ein entfärbtes elendes Stiefelpaar, das er schonen mußte, weil das andre, das er an andern Stecken, nämlich an den Beinen, schleppte, noch elender und weniger ohne Farbe als ohne den Boden dazu war. Als er den Fiebrischen schonend gegrüßet und beschenkt hatte,[619] so sah er ihm ins bleiche erstorbene Gesicht, und er konnte ihm einiges Schmerzengeld nicht versagen... Ach das ganze Schmerzengeld für dieses Leben wird erst in einem höheren ausgezahlt! ... Als er ihn höflich ausgefragt und sich um seine hungrige Wanderschaft, um seine Zuchthaus-Kost, um sein Flüchten von Ländern in Länder und um seinen dünnen Zehrpfennig, den ihm die Meisterin abschlug, wenn der Meister aus war, erkundigt hatte: so schämte er sich vor dem Allgütigen seines Blumenfeldes von Entzückungen, welches er nicht mehr verdiene »wie der arme Teufel da«, und er begabte noch einmal nach – Und als er wieder ihn erwartete und sein funfzigjähriges Alter ohne Aussicht erfuhr, und ihn die Beklemmung überwältigte, die ihm allezeit alte, aber unentwickelte Menschen machten, graue Gesellen, alte Schreiber, alte Provisores, alte Famuli: so war er etwas entschuldigt, daß er wieder zurücklief und dem erstaunten Alten stumm die neuen Zeichen seiner überfließenden beglückenden Seele gab – – Und als er in der neuen Entfernung sein in Liebe zergangnes, gleichsam nur um seine Seele schwimmendes Herz immer mehr nach Wohltun dürsten und einen unbegreiflichen Hang zu neuem Geben und das Sehnen fühlte, irgendeinem Menschen heute alles, alles hinzulegen: so merkt' er erst, daß er jetzt zu weich sei und zu selig und zu trunken und zu schwach.

Sobald man im Dorfe die gewissen Nachrichten von diesem Durchgangzoll der Wohltätigkeit in Händen hatte: so legten sich nachmittags ungefähr 15 Kinder in verschiednen Posten an den Weg, besetzten die engen Pässe und stellten Schildwachen und enfants perdus aus, um Zollverkürzungen abzukehren...

Ein Mensch, der aus drei geraden Stunden sieben krumme konstruierte wie Viktor, hat oft Hunger, aber sicher größern als er; – er nahm bloß das Leibnizische Monaden-Mahl aus der Tasche, Zwieback und Wein, und speisete damit den an den Geist gehangnen ziehenden Magen ab, um die helle, mit Himmelblau und Himmelrot ausgewölbte See seines Innern durch keine hineingeworfne Fleischstücke dunkel und schmutzig zu machen. Überhaupt haßte er Fresser als Menschen von zu grobem Eigennutz, so wie alle lebendige Speckkammern, wo Fettlagen den Geist,[620] wie Schneeklumpen eine Hütte, einquetschen. Die Seele, sagt' er, nimmt von den Inlagen des Körpers, wie der Wein vom Obst, das neben ihm im Keller ist, den Geruch an, und im mephitischen Dampfe, in welchem die Seelen der Flachsenfinger über den ihre Kartoffeln und Biere siedenden Braukesseln ihrer Magen zappeln, müssen wohl die armen Vögelchen besoffen und erstickt in dieses Tote Meer herunterfallen.

Er brach seinen Zwieback nicht in einem Hause, sondern im Knochengebäude, d.h. im Sparrwerk eines Hauses, das erst aus den Händen und Beilen der Zimmerleute vor das Dorf gekommen war. Indem er durch alle Abteilungen und Unterabteilungen dieses Baugerippes und auf einmal durch Stube, Küche, Stall und Boden sah: so dachte er: »Wieder ein Schauspielhaus für eine arme kleine Menschentruppe, die hier ihre Benefizkomödie, ihre Gays-Bettleroper abspielet, ohne daß eine Stimme aus der großen Loge schreiet: bis! Ach bis diese Balken der Winterrauch zu Ebenholz geräuchert hat, wird manche Augenhöhle rot gequälet werden; mancher Nordwestwind des Lebens wird durchs Fenster an zagende Herzen fahren, und in diese Winkel, die erst dunkel vermauert werden, wird mancher Rücken mit Quetschwunden vom Gewehrtragen des bürgerlichen Lebens treten, um den Schweiß abzutrocknen oder das Blut. – Aber die Freude« (dacht' er fort und sah an die Stelle des Ofens und des Tisches) »wird euch Insassen auch ein paar Nelkenbäume vors Fenster setzen und mit dem Brautwagen der drei heiligen Feste und der Kirmes und der Kindtaufe vor eurer Haustüre, die erst eingesetzt wird, vorfahren und abladen. – – Himmel, wie närrisch, daß ich mir hier im gegitterten alles das lieber denke, als in den ausgemauerten Häusern des Dorfes dort sehe!«

Unter dieser Tisch- und Baurede, wobei kein Trinkglas zerschlagen wurde, strich die weiße Brust der Schwalbe tief über den Fuhrweg, und ihr Schnabel lud den gelöschten Kalk zu ihrem Dachstübchen auf. Die Wespe hobelte sich aus dem Sparrwerk Papierspäne zu ihrer Zwiebel-Kugel. Die Spinne hatte ihr Spinnhaus schon ins große hineingeknüpft. Alle Wesen zimmerten und mauerten sich im unendlichen Meere ihre kleinen Inseln; aber der[621] wühlende Mensch wendet sich nicht um und sieht nicht, daß ihm alles ähnlich ist.

Sebastian verließ sein hölzernes Gasthaus, sein Gerippe von einem frankfurtischen Roten Hause, trunkner und glücklicher, als er aus einem ausgemauerten hätte gehen können. In gewissen Menschen breitet sich eine dunkle Wehmut, ein desto größerer Seelen-Schatten aus, wenn die Schatten außer ihnen am kleinsten sind, ich meine um 1 Uhr nachmittags im Sommer. Wann nachmittags unter der brütenden Sonne Wiesen stärker duftend und mit gesenkten Blättern, Wälder sanfter brausend und ruhend dastehen, und die Vögel darin als stumme Figuranten sitzen: dann umfaßte im Eden, worüber schwül das Blütengewölke auflag, eine sehnsüchtige Beklommenheit sein Herz – dann wurd' er von seinen Phantasien unter den ewigblauen Himmel des Morgenlandes und unter die Weinpalmen Hindostans verweht – dann ruhte er in jenen stillen Ländern aus, wo er ohne stechende Bedürfnisse und ohne sengende Leidenschaften auseinanderfloß in die träumende Ruhe des Brahminen, und wo die Seele sich in ihrer Erhebung festhält und nicht mehr zittert mit der zitternden Erde, gleich den Fixsternen, deren Schimmer nicht zittert, auf Bergen angeschauet – dann war er zu glücklich für einen deutschen Kolonisten, zu dichterisch für einen Europäer, zu schwelgend für einen Nordpol-Nachbar... An jedem Sommermorgen besorgt' er, daß er am Sommernachmittag zu weichlich phantasieren werde.

Das Fasten – der Wein – der Himmel – die Erde hatten heute seine Herzkammern so freigebig mit dem Schlaftrunk der Wonne vollgegossen, daß sie, wenn nachgeschüttet wurde, überfließen mußten durch die Augen. Jene gossen nach; und hinter seinen verdunkelten Augen, in seinem überschatteten, mit dem Grün der Natur ausgeschlagnen Innern, das gleichsam abendrote Vorhänge dunkel machten, brach eine Farben-Nacht an, in welcher alle kleine Gestalten seiner Kindheit neblig aufstiegen – das erste Spielzeug des Lebens wurde ausgelegt – seine ersten Wonnemonate spielten wie kleine Engel auf einer Abendwolke, und sie konnten nicht in ihren Flügelkleidern um die große Wolke fliegen, und die Sonne versengte sie nicht. – –[622]

Ach was er längst vergessen, längst verloren – längst geliebt hatte – Lieder ohne Sinn und Töne ohne Worte – namenlose Gespielen – beerdigte Wärterinnen – verstorbne Bedienten – diese alle wurden lebendig, aber vor ihnen voraus ging am größesten sein erster, sein teurester Lehrer Dahore in England und sagte zur zerschmolzenen Seele: »Wir waren sonst beisammen.« – O, dieser ewig geliebte Geist, der schon damals in unserem Viktor die Flügel sah, die sich nach der andern Welt aufrichten, der schon damals mehr der Freund als der Lehrmeister seines so weichen, so wogenden, so liebevollen, so ahnungvollen Herzens war, dieser unvergeßliche Geist wollte nicht weichen, seine Gestalt schlug den Leichenschleier zurück, fing an zu glänzen und an zu reden: »Horion, mein Horion, warst du nicht an meiner Hand, warst du nicht an meinem Herzen? Aber es ist lange, daß wir uns geliebt haben, und meine Stimme ist dir nicht mehr kenntlich, kaum noch mein Angesicht – ach die Zeiten der Liebe rollen nicht zurück, sondern ewig weiter hinab.« Er lehnte sich an einen Baum und trocknete unaufhörlich das Auge, das den Weg nicht mehr fand, und seine Blicke ruhten fest an den Wäldern, die nach St. Lüne gehen, und an den neblichten Bergen, die sich vor Maienthal und vor seinem zweiten Lehrer stellen...

– Kussewitz sprang vor.

Aber zu bald; seine bewegte Seele wollte noch nicht unter fremde Menschen. Es war ihm lieb, daß er an eine umgestürzte Rinne stieß, aus welcher Schafe Salz lecken, und an einen Zaun, der sie zu nachts behütet, und an die Hütte auf zwei Rädern, worin ihr Wärter schläft. Er hatte eine eigne Neugierde und Vorliebe für kleine Nachbilder der Häuser; er trat in oder an jede Köhlerhütte, in jede Jäger- und Vogelhütte, um sich mit seiner eignen Einschränkung und mit den Parodien unsers kleinen Lebens und mit dem Erdgeschoß der Armut zu betrüben und zu erfreuen. Er ging vor nichts Kleinem blind vorbei, worüber der Welt- und Geschäftmann verschmähend schreitet; so wie er wieder vor keinem Pomp des bürgerlichen Lebens stehen blieb. Er machte also ein Türchen am Fahr-Bette des Schäfers auf: es sah darin so armselig aus, und das Stroh, das Eiderdunen und Seidensäcke ersetzte,[623] war so niedrig und zerknüllt, daß er sich unbeschreiblich hineinsehnte; er brauchte jetzt eine Täucherglocke, die ihn aus dem treibenden, drückenden, erhabnen Meere um ihn absonderte. Ich wollt', man könnt' es den europäischen Kabinetten, dem Reichstag und dem Prinzipalkommissarius verbergen, daß er sich wirklich hineinlegte. Hier aber ging die Anspannung seiner Sinne, in welche die Bett-Pforte nur einen kleinen Ausschnitt vom Himmelblau einließ, bald in die Erschlaffung des Schlummers zurück, und über das heiße Auge sank das Augenlid.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 1, München 1959–1963, S. 613-624.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Wieland, Christoph Martin

Alceste. Ein Singspiel in fünf Aufzügen

Alceste. Ein Singspiel in fünf Aufzügen

Libretto zu der Oper von Anton Schweitzer, die 1773 in Weimar uraufgeführt wurde.

38 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon